Mit «Das wilde Kind» setzt T.C. Boyle seine Literarisierung historischer Figuren fort. Sein Buch berührt, wirft viele Fragen auf – und lässt sie offen.
Zum Schreiben zieht sich der 61jährige, aber noch immer sehr jungenhaft wirkende Thomas Coraghessan Boyle gern in die Berge zurück. Er flieht vom belebten Santa Barbara am kalifornischen Strand hinauf in seine karge Berghütte in der Einsamkeit der Sierra Nevada.
Gelegentlich empfängt er dort Gäste, wie letztes Jahr, als ihn ein Reporter des deutschen «Stern» besucht und einen quicklebendigen, geradezu schreibsüchtigen Mann angetroffen hat.
Beim Beenden eines Buches empfinde er ein uferloses Glücksgefühl, erzählt Boyle, «vergleichbar vielleicht mit einem Schuss Heroin, und ich weiss, wovon ich rede.»
Denn T.C. Boyle, dessen Eltern Alkoholiker waren, ist in jungen Jahren schwer abgestürzt. Doch als seine Eltern kurz hintereinander starben, da wurde ihm klar, «dass ich in einem grossen Irrtum lebte». Das Wichtigste aber sei gewesen, «dass ich etwas entdeckte, in dem ich das erste Mal im Leben gut war.
Das Schreiben. Seitdem bin ich davon besessen». So besessen, dass er bereits dreizehn Romane und unzählige Geschichten hervorgebracht hat. Sie handeln vom Leben illegaler mexikanischer Einwanderer («América»), nicht selten aber literarisieren sie reale Figuren: «Willkommen in Wellville» dreht sich um John Harvey Kellogg, «Die Frauen» um den Architekten Frank Lloyd Wright.
Auch «Das wilde Kind», Boyles neuestes Werk, knüpft an eine reale Figur an – die von dorther kommt, wo Boyle seine Bücher gebärt: aus der Wildnis.
Im Jahre 1797 taucht in einem Wald beim Dorf Lacaune in der Languedoc im Süden Frankreichs ein nacktes Kind auf, das auf allen vieren flieht. Es wird Gegenstand von allerlei Gerüchten.
«Der Terror war vorüber, der König war tot und das Leben kehrte – insbesondere in der Provinz – zur Normalität zurück. Die Menschen brauchten ein Geheimnis in ihrem Leben, den Glauben an etwas Unerklärliches, Wunderbares.»
Auch als es gefangen wird, bewahrt dieses nackte Kind sein Geheimnis. Es hat eine Narbe am Hals, mit fünf Jahren ist Victor, wie er später heisst, von der zweiten Frau seines Vaters in den Wald geführt worden. Sie soll ihn töten, bringt es aber nicht übers Herz.
Victor ist eine Sensation wie andere «wilde» Kinder, die in diesen Jahrzehnten auftauchen. Das berühmteste ist der 1833 getötete Kaspar Hauser. Auch T.C. Boyles «wildes Kind» hat vor noch nicht allzu langer Zeit einen Biographen gefunden: Mit «L'Enfant sauvage» hat der französische Regisseur François Truffaut sein Schicksal 1970 auf die Leinwand gebracht – und ein unerwartet grosses Echo ausgelöst.
Victor verschwindet deshalb nicht im Dunkel der Überlieferung, weil sich nach etlichen Zwischenfällen im Taubstummeninstitut in Paris ein begabter Arzt namens Jean Itard des Dreizehnjährigen annimmt. Victor wird Gegenstand der Wissenschaft, an ihm soll sich entscheiden, wer Recht hat unter den Philosophen: Rousseau mit seiner Theorie vom edlen Wilden, der von Natur aus gut sei, oder Locke und Condillac, die ihn bei der Geburt als eine «Tabula rasa» sehen, ungeformt und ohne Ideen.
Doch Victor, dessen Geschichte Boyle anrührend und zugleich nüchtern erzählt, entzieht sich dem menschlichen Erklär-Bedürfnis. Manchmal mag es scheinen, dass Itard Fortschritte macht, doch immer wieder entzieht Victor sich mit abenteuerlich-rätselhaften Aktionen. Er zeigt Gefühle, aber er lernt nicht sprechen, schlimmer noch: Victor kennt kein Schamgefühl.
So gibt Itard auf, Victor lebt bei Pflegeeltern, sitzt reglos im Hof, schaut zum Himmel. Was geht in ihm vor? Ja, wenn man das wüsste.
T.C. Boyle: Das wilde Kind, Hanser, München 2010, Fr. 23.90