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Leben
Unangenehme Szenen, in denen niemand einschreitet, kommen häufig vor. Viele fühlen sich überfordert, wenn sie nicht auf Routinehandlung zurückgreifen können. Das Handeln in solchen Situationen lässt sich aber üben.
Baden, an einem Freitagabend. Ein 28-Jähriger sieht, wie eine Frau von einem Mann aus einer Gruppe junger Leute geschlagen wird. Er schreitet ein, spricht die Frau an. Die jungen Leute verprügeln ihn, er wird mit einer Hirnerschütterung ins Spital eingeliefert.
Zwei Monate zuvor vor einem Nachtclub in Genf: Eine Frau wird von einer Gruppe Männer angegriffen. Vier Frauen eilen ihr zu Hilfe. Alle fünf werden zusammengeschlagen, eine gar ins Koma geprügelt.
In beiden Fällen haben Menschen couragiert eingegriffen und das teuer bezahlt. Beide Fälle haben viel zu Reden gegeben und Angst gemacht. Die Polizei rät, vor einem Eingreifen die Situation einzuschätzen und das Risiko abzuwägen. Doch dass Situationen wie in Genf und Baden eskalieren, ist selten.
Sehr viel häufiger kommt das Umgekehrte vor: Situationen von Belästigungen, die ungefährlich sind, in denen aber niemand einschreitet. Sprüche gegen Schwule oder Ausländerinnen, die systematische Ausgrenzung eines Kollegen am Arbeitsplatz, häusliche Gewalt im Nachbarhaus – und alle schweigen.
Ein Grüppchen bei der Kaffeepause im Büro. Ein Mann erzählt einem Arbeitskollegen vom Bachelor, der in der neusten Sendung die Ärsche der Kandidatinnen anfassen und den Frauen habe zuordnen müssen, «huere geil». Dann wendet er sich einer Frau zu: «Würdest du auch beim Bachelor mitmachen mit deinem Top-Body?»
Und wie es denn mit ihrem Freund laufe, aha, nicht mehr zusammen, wieso denn? Ob sie es nicht gebracht habe im Bett? Sie wisse ja, er mache nur Spass, sagt er. Doch der Frau macht die Situation offensichtlich keinen Spass. Sie zieht ihre Mundwinkel tiefer und tiefer hinunter und läuft schliesslich genervt davon.
Das ist ein klarer Fall von sexueller Belästigung – und trotzdem eine Alltagssituation. Dass sich niemand offen gegen den Sexismus stellt, heisst nicht, dass alle Anwesenden die Sprüche billigen. Aber keine und keiner fühlt sich verantwortlich. Ein bekanntes Phänomen der Soziologie, das umso stärker ist, je mehr Menschen anwesend sind.
In der Psychologie gibt es eine Erklärung dafür. Wer unsicher ist beim Einschätzen einer Situation, orientiert sich daran, was die anderen machen. Wenn diese untätig bleiben, sieht er oder sie das als Hinweis darauf, dass kein Einschreiten nötig ist – selbst wenn das eigene Gefühl etwas anderes sagen würde.
Hinzu kommen die Hemmung, sich zu exponieren, und die Grundeinstellung, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen. Und viele fühlen sich schlicht überrumpelt und überfordert mit solchen Situationen, in denen sie nicht auf Routinehandlung zurückgreifen können.
Das Verhalten in solchen Situationen lässt sich aber schulen. Veronika Brandstätter, die als Psychologieprofessorin an der Universität Zürich Zivilcourage erforscht, sagt: «Es ist sinnvoll, solche Situationen im Kopf oder in Rollenspielen durchzuspielen.» Das helfe, die Wahrnehmung zu schulen und eine gewisse Routine für den Umgang mit solchen Situationen zu entwickeln.
Brandstätter hat als wissenschaftliche Beraterin an der Entwicklung einer Kampagne zu Zivilcourage mitgewirkt, die im Frühjahr von der Stadtpolizei Zürich gemeinsam mit den Verkehrsbetrieben Zürich lanciert wurde.
In einem elektronischen Schattentheater werden die Teilnehmenden mit Situationen konfrontiert, in denen Zivilcourage gefragt ist. Mit ihrem Stand tourt die Polizei durch die Stadt Zürich und machte auch in Baden Station, wo der eingangs geschilderte Vorfall im Oktober für Verunsicherung gesorgt hatte.
Noch realistischer ist das Training, wenn es nicht mit elektronischen Schatten, sondern mit echten Menschen durchgeführt wird. Das bietet Amnesty International an Kursen mit einem Schauspielteam. «Unsere Workshops zu Zivilcourage sind praktisch immer ausgebucht», sagt Julia Dubois, Bildungsverantwortliche von Amnesty.
Das war auch der Fall, als es kürzlich an einem Abend ums Einschreiten spezifisch bei sexueller Belästigung ging. Rund zwanzig Personen sind gekommen, von der Studentin bis zum Grauhaarigen, nebst Frauen auch eine Handvoll Männer.
Aus diesem Workshop stammte die Szene mit der Kaffeepause und den sexistischen Bachelor-Sprüchen. Von Gesetzes wegen wäre es der Arbeitgeber, der die Frau vor solch sexistischem Verhalten schützen müsste, erklärt Julia Dubois von Amnesty International am Workshop in Bern. Nichtsdestotrotz braucht die betroffene Frau im Moment des Übergriffs Unterstützung von den Anwesenden.
Darin sind sich auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops einig. Doch klappt das in der Praxis? In Gruppen von vier oder fünf Personen spielen die Anwesenden gemeinsam mit den Schauspielprofis die Kaffeepause-Szene nochmals durch. Und tatsächlich stösst der sexistische Mann nun auf Widerstand. Ob er das in Ordnung finde, eine Frau nur nach ihrem Äusseren zu beurteilen, fragt ihn eine Teilnehmerin. Er zeigt sich beleidigt, er habe ja ein Kompliment gemacht, das sei doch nicht böse gemeint.
Angenehm ist die Situation für niemanden. Und doch war die Schauspielerin in ihrer Rolle als Opfer froh über die Intervention: Es habe sich gut angefühlt, dass jemand die Aufmerksamkeit des Täters von ihr abgezogen und sich auf ihre Seite gestellt habe, erklärt sie im Nachhinein.
Wer einschreitet und wer nicht, hängt laut Veronika Brandstätter auch von der Persönlichkeit ab. «Zum Eingreifen neigen eher Menschen mit Selbstvertrauen, welche die Zuversicht haben, mit einer schwierigen Situation zurechtzukommen.» Es greife auch eher ein, wer soziale Werte hochhalte, wem das Wohl anderer wichtig sei. Hinzu komme ein gewisses Mass an Einfühlungsvermögen.
Zudem tendiere eher zum Einschreiten, wer in kritischen Situationen einen kühlen Kopf bewahre und wisse, was man konkret tun könne und was man auf jeden Fall unterlassen solle.
Es sind meist also nicht Hitzköpfe, die sich unüberlegt einschalten. Trotzdem eskalierte es in Baden und Genf. Wie könnte in solchen Fällen interveniert werden, ohne die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen? Die Polizei alarmieren, natürlich. «Stopp!» rufen, um die Dynamik zu unterbrechen, empfiehlt das Schauspielteam am Workshop von Amnesty International. Und sich fürs Eingreifen mit anderen Passantinnen und Passanten zusammentun. Die Täter, die in Genf fünf Frauen zusammenschlugen, hauten ab, als drei Männer gemeinsam den Opfern zu Hilfe eilten.