«Grenzfälle» heisst das Buch von Ina Boesch. Es erzählt von Menschen, die anderen bei der Flucht über eine Grenze helfen – an der Grenze von legal und legitim.
Vallorbe ist der Ort von «La Forteresse», hier hat Fernand Melgar letztes Jahr seinen Dokumentarfilm aus dem Innern des Schweizer Asylverfahrens gedreht. Vallorbe ist ein Grenzort – ein Tor zur Welt für die einen, ein Schlupfloch in die Sicherheit für die anderen. Ein dichtbewaldeter Hügel trennt die Vallée de Joux von Frankreich: Le Risoux. Die Pfade durch den Wald verbinden die Familien hüben und drüben, waren aber auch früher schon Schmuggelpfade für Streichhölzer, Uhren, Kühe – und Menschen.
Eine der Fluchthelferinnen aus der Vallée de Joux ist Anne-Marie Im Hof-Piguet. Ab Juni 1942 arbeitete die junge Frau im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes SRK auf Schloss La Hille am Fuss der Pyrenäen, wo jüdische Kinder betreut wurden. Im August begannen die Deportationen nach Auschwitz. Das SRK hatte Kenntnis, in Bern reagierte aber niemand. Auch die Bemühungen des SRK, beim Bundesrat eine humanere Flüchtlingspolitik zu erwirken, fruchteten nichts. Da nahm Im Hof-Piguet die Sache selbst in die Hand und begann, Kindern zur Flucht über den Risoux in die Schweiz zu verhelfen.
«Ich war vielleicht etwas naiv», sagt Anne-Marie Im Hof-Piguet heute. Sie habe aus christlicher Nächstenliebe gehandelt. «Ich war ganz einfach entsetzt über den Antisemitismus und die Politik von Hitler. Es war nicht Gefühlsduselei, sondern eine absolute Überzeugung.» Würde sie heute noch Illegale über die Grenze bringen? Nein, es tue ihr leid, die Mentalität der Flüchtlinge sei so anders, meint sie. Und doch: «Unsere Flüchtlingspolitik ist scheusslich.»
Anne-Marie Im Hof-Piguet ist einer von fünf «Grenzfällen», die Ina Boesch in ihrem Buch erzählt. Die Zürcher Journalistin und Autorin hat Fälle vom Zweiten Weltkrieg bis heute aus ganz Europa ausgewählt. Es gehe ihr nicht um Heldengeschichten, sagt sie, «der Fluchthelfer ist eine zwiespältige Figur – Freund und Schlepper».
Boesch beschränkt sich denn auch nicht darauf, die Darstellungen der Fluchthelfer nachzuerzählen – «Erinnerung kann trügerisch sein». Sie recherchiert die Fakten so weit als möglich nach, trifft weitere Beteiligte und liefert historische Hintergrundinformationen. Und am Schluss jedes Kapitels führt sie ein kritisches Interview mit der Gewährsperson, in dem es um ihre Motive, um Mut und Angst und Abenteuer, um politische Gesinnungen und Widersprüche geht.
So schafft sie eine gewisse Distanz, die eine Reflexion erlaubt. Denn die Geschichten an sich verschlingt man wie einen spannenden Roman: Artur Radvanský führte 1939 Flüchtlinge durch die Kohlenschächte aus dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Polen, bis es für ihn selber zu spät war. Radvanský erlitt danach eine Odyssee durch mehrere Konzentrationslager. Dieter Thieme und Detlef Girrmann holten 1961/62 Ostdeutsche nach Westberlin, zuerst durch die Kanalisation, dann mit (unter anderem von Schweizern) ausgeliehenen Pässen oder über Kopenhagen. Anni Lanz hat in den 1980er- und 1990er-Jahren als harmlose Spaziergängerin Asylbewerber am Basler Zoll vorbei in die Schweiz gebracht. Und Nieves García Benito las bis 2007 am spanischen Strand Marokkaner zusammen, die auf der Überfahrt über die Strasse von Gibraltar nicht ertrunken waren. Sie liess sie duschen, schlafen, essen und brachte sie mit ihrem Auto ins Landesinnere, wo sie nicht sofort zurückgeschafft werden, wenn man sie aufgreift.
Sie sind alle mehr oder weniger zufällig zu Fluchthelfern geworden, legten dann aber in der Ausarbeitung ihrer Pläne sehr viel «kriminelle Energie» an den Tag und tüftelten raffinierte Fluchtwege aus. Ihre Triebfedern sind unterschiedlich, sie alle jedoch sehen ihr Tun als einen Akt des Widerstands gegen ein Regime oder eine Gesetzgebung, die sie als inhuman empfinden.
Ina Boesch versteht ihr Buch auch als Kommentar zur heutigen Asylpolitik der Schweiz. «Es ist Irrsinn zu glauben, man könne mit besser bewachten Grenzen die Migration verhindern. Je höher die Hürden, desto mehr Fluchthelfer gibt es.» Sie selber habe aus den Gesprächen mit diesen vorbildlichen Persönlichkeiten Mut geschöpft: «Das sind alles Durchschnittsmenschen, aber sie haben sich entschlossen, etwas zu tun.»
Das Buch «Grenzfälle» macht auch seinen Leserinnen und Lesern Mut – doch ist es alles andere als ein gefühliger Appell an Gutmenschen. Ina Boesch stellt sich sehr realistische Fragen zur Legitimität von illegalen Taten und sucht nach Antworten. Ihre abschliessenden Überlegungen stellt sie dann unzweideutig unter die Prämisse von Navid Kermani: «Ein Flüchtling, der ertrinkt, ist ein Flüchtling, der ertrinkt.»
Ina Boesch: Grenzfälle. Von Flucht und Hilfe – fünf Geschichten aus Europa. Limmat Verlag, Zürich 2008, Fr. 38.50 Am 11. Februar hält Ina Boesch den Mittwoch-Mittag-Impuls um 12.15 Uhr in der Kirche St. Laurenzen; um 19.30 Uhr liest sie in der Buchhandlung Comedia, St. Gallen.