Berührungen gehen unter die Haut: Sie spenden Trost und Sicherheit. Ein Mangel an Körperkontakt macht krank, sagen Haptik-Forscher. Dennoch fassen wir uns im Alltag immer seltener an. Kuschelpartys sollen den Hunger nach Nähe stillen.
Ein junger Mann hat ein Geheimnis. Einmal im Monat fährt er zweieinhalb Stunden nach Winterthur und kuschelt da mit wildfremden Menschen. «Nur meinem besten Freund habe ich davon erzählt», sagt der 30-Jährige – als wär’s ein schmutziges Geheimnis. Etwa drei Monate überlegte er hin und her, bevor er eine Kuschelparty besuchte. Seither geht er regelmässig hin und stillt hier seinen Hunger nach Streicheleinheiten.
Barfuss steht der junge Mann nun da, mit 30 anderen bequem gekleideten Frauen und Männern zwischen 20 und 70 Jahren, die sich sofort duzen. Die meisten sind single und sehnen sich nach Körperkontakt. Der Kuschelabend kostet 35 Franken. Für einmal soll es erlaubt sein, wildfremde Menschen zu streicheln und zu umarmen: Dicke, Dünne, Junge, Alte, Homos, Heteros, Männer, Frauen. Es geht nicht um Sex.
Das Qui-Space in Winterthur ist einer dieser typischen Selbsterfahrungsräume, wo sich Leute treffen, die auf der Suche sind. Nach sich selbst, nach spirituellen Erfahrungen und Nähe. Kerzen brennen, in der Mitte steht ein Blumenstrauss. «Küsse sind tabu, auch Geschlechtsteile und Brüste dürfen nicht berührt werden», sagt Körpertherapeutin LuciAnna Braendle. Die Frau im bunten Kleid mit den Lachfältchen und den blond-grauen Locken hat schon annähernd 1000 Menschen zum Kuscheln angeleitet. «Keine Nacktheit, keine Hände unter den T-Shirts», erklärt sie die Spielregeln gleich zu Beginn. Die sind so strikt, weil auch Leute kuscheln wollen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Und die sich langsam und zwanglos an andere annähern und wieder Vertrauen aufbauen wollen. Grapscher nimmt LuciAnna sofort ins Gebet. Halten sie sich nicht an die Regeln, werden sie fortgeschickt.
«Nach einem Kuschelabend ist man wie auf Drogen.»
Wir sitzen im Kreis auf bunten Kissen. «Mit wem könnte ich heute Abend kuscheln?», fragt sich der eine oder die eine insgeheim. «Der Mensch hat einen Paarungsinstinkt und checkt dauernd seine Umgebung aus», sagt LuciAnna, als habe sie unsere Gedanken gelesen. Doch soll es hier weder ums Kennenlernen noch um erotische Anziehung gehen. Ganz wichtig auch: Grenzen setzen. Niemand muss kuscheln, man darf sich jederzeit zurückziehen. «Bitte respektiert auch die nonverbalen Nein-Signale der anderen Leute.»
Die Matratzen für später liegen noch in der Ecke, erst ist Aufwärmen angesagt. «Listen to your heart» – der Sound von Roxette dringt aus den Boxen, eine rundliche Frau in einem grünen Spitzenkleid klatscht und schüttelt ihre Locken, zwei Damen halten sich an den Händen, ein Mann mit Ziegenbärtchen wirbelt um die eigene Achse. Danach darf sich ein Drittel der Teilnehmer auf eine Matratze legen – mit verbundenen Augen. «Ihr seid jetzt König oder Königin», sagt LuciAnna, «und werdet von zwei Engeln verwöhnt.» Immer wieder komme es vor, dass Männer sagen, sie wollen auf keinen Fall von Männern berührt werden. «Die Angst, man könnte schwul sein, ist noch in vielen Köpfen», sagt LuciAnna. Das lege sich aber, wenn sich ein Mann auf die Übungen einlässt und merkt, wie gut Berührungen in freundlicher Absicht tun – ganz gleich, ob von einer Frau oder einem Mann. Bei der König-Engel-Übung weiss man ohnehin nicht, wer einen streichelt. Fingerspitzen klopfen wie Regentropfen auf die Arme, Hände streichen über Schläfen und kraulen einen Nacken. Jemand seufzt entspannt, ein anderer atmet geräuschvoll.
All das ist an keine Bedingung geknüpft – und das ist gut so. Niemand fragt sich: Was will er oder sie von mir?
«Es geht nicht um einen Tauschhandel», sagt die Therapeutin. Viel zu oft fühle man sich dem Gegenüber im Alltag unnötig verpflichtet. Lädt ein Mann eine Frau zu einem Drink ein, habe sie oft das Gefühl, sie müsse mit ihm ins Bett. Auch Paare streiten sich darüber, wer wem mehr Gutes getan hat. Als müssten die «Konten» ausgeglichen sein.
Die drei Stunden in Winterthur verfliegen im Nu. Höhepunkt des Abend ist ein «Kuschelhaufen». Nach und nach finden sich alle auf einer grossen Liegeinsel zusammen. Eine Teilnehmerin legt den Arm auf einen Schenkel einer älteren Frau, den Kopf an eine Brust. Streckt den Arm aus und bekommt eine warme Männerhand zu fassen, die sie sanft drückt. Eine selige Ruhe breitet sich aus. Man fühlt sich wie ein Kind, das von seinen Eltern in die Arme genommen wird. An einem sicheren Ort, wo alles gut ist. Das rührt an etwas Archaisches: Wie die Höhlenmenschen einer Sippe spenden sich die Teilnehmer Nestwärme. «Menschen sind Rudeltiere», sagt LuciAnna. Sie beobachtet, was im Kuschelhaufen vor sich geht.
Einmal geht sie dazwischen und ermahnt zwei Leute, die sich betatschen. «Obschon sexuelle Erregung ein schönes Gefühl ist, ist dies ist nicht der Ort, um sich auf diese Art zu stimulieren», stellt die Veranstalterin erneut klar.
«Wenn eine Erregung aufkommt, dann atme tief ein, beobachte sie und lass sie vorüberziehen.»
Nach dem Kuschelabend verweilen ein paar Leute noch auf den Matten, der junge Mann lehnt sich an die rundliche Frau im hellgrünen Kleid. Eine Frau erzählt, dass sie in der Familie einen Todesfall erlebt habe. Das Kuscheln habe ihr in der Trauer Trost gespendet. «Wir sind sanfte Revolutionäre», sagt ein älterer Herr, bevor er aufbricht. Glücklich lächelnd – und allein.
«Die meisten sind wie auf Drogen nach einem Kuschelabend», sagt LuciAnna. Es seien jedoch körpereigene, gesunde Drogen. Zwei Quadratmeter Haut umspannen den Körper, unser grösstes Organ. Hände, Lippen und Zunge sind mit den meisten Sensoren auf unserer Körperoberfläche ausgestattet. Berührt ein anderer Mensch unsere Haut, rasen Nervenimpulse durch den Körper. Das Kuschelhormon Oxytocin wird ausgeschüttet und stärkt das Immunsystem. Forscher gehen davon aus, dass Oxytocin das Sozialverhalten verbessert. Bei unangenehmen Berührungen wird hingegen das Stresshorm Cortisol ausgeschüttet.
«Berührung ist seit eh und je zwiespältig», schreibt Elisabeth von Tadden in ihrem neuen Buch «Die berührungslose Gesellschaft». Leicht komme einem ein Mensch allzu nah. Da werde eine Berührung plötzlich als Belästigung erlebt, als Übergriff oder sogar als Gewalt. Einerseits will man sich vor einer Verletzung schützen, gleichzeitig sehnt man sich nach Zuwendung. «Das eine scheint ohne das andere kaum zu haben», schreibt die Autorin.
Der experimentelle Psychologe Martin Grunwald betont die positive Seite. Er ist überzeugt, dass «die meisten psychischen Störungen auf Berührungsarmut und damit auf einer Tastsinnstörung beruhen.» Der Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Universität Leipzig hält Kuschelpartys, die 2004 von einem New Yorker Therapeutenpaar ins Leben gerufen wurden, für eine gute Idee.
«Berührungen stabilisieren das Immunsystem, senken den Blutdruck, lindern Depressionen, fördern die Entwicklung von Kindern und das Wohlbefinden von Pflegebedürftigen.»
Der Tastsinn ist dazu da, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Dem Bedürfnis nach Nähe haftet in den Augen der Gesellschaft jedoch etwas Schmuddelig-Unseriöses an. Der Grundtenor: Das soll in der Familie und hinter verschlossenen Türen stattfinden. «Es ist einfacher, sich über Dating-Apps einen One-Night-Stand zu organisieren als eine Umarmung zu bekommen», sagt Tastsinn-Forscher Grunwald. Der Mensch versichere sich durch Körperkontakt mit anderen, dass er nicht allein auf der Welt ist.
«Das Säugetier Mensch kann nicht ohne andere. Zur Not geht auch ein Hund oder eine Katze – aber es muss lebendig sein.
Auch das ständige Streicheln des Smartphones ist ein Phänomen. Zahnärzte berichten, dass Patienten es während der Behandlung in der Hand halten wollen. Allerdings, wendet Grunwald ein, könne man die Biochemie einer Hautberührung nicht mit einem Smartphone ersetzen. «Die Verformung von Körperhaut durch die Berührung eines lebendigen Körpers sendet Mikroströme von Signalmolekülen aus, die sich virtuell nicht simulieren lassen.»
Anstelle der Nähe von Mensch zu Mensch ist eine Ersatzindustrie getreten, die mit Körperkontakt Millionen verdient. Damit einen endlich mal wieder jemand anfasst und durchknetet, leisten wir uns eine teure Massage oder ein Wohlfühlpaket im Wellnesshotel. Wir geniessen bei der Coiffeuse insgeheim eine wohlige Kopfmassage. Oder eben, wir besuchen einen Kuschelabend. Ist es nicht traurig, dass die Not so gross ist, dass daraus Profit gezogen wird? «Wenn Sie ins Restaurant gehen, zahlen Sie auch fürs Essen», sagt LuciAnna Braendle trocken. Sie findet, dass auch Politiker vor einer Verhandlung kuscheln sollten. «Dann wären sie entspannter und hätten ein Verbundenheitsgefühl.»
Doch der Tastsinn ist in Verruf geraten. In Krippen werden Berührungen reglementiert, im Sportunterricht gemieden. Auch die MeToo-Debatte hat dazu geführt, dass Menschen Berührungen aus dem Weg gehen – auch wenn sie gar nicht sexuell gemeint sind. Früher traf man sich noch zum Tanz, um jemanden kennen zu lernen. «Heute versucht man zwanghaft, nicht in Berührung zu kommen», sagt Körpertherapeutin LuciAnna Braendle. Beim Zugfahren berührt sie manchmal absichtlich Mitreisende, die sich breit machen, mit dem Knie oder Ellenbogen. «Ich mache damit aus einer nervigen Situation eine Kuschelreise», sagt sie. «Manche rutschen langsam weg. Andere lassen es geschehen.» Belästigt habe sich noch keiner gefühlt.
Barmänner und Kellnerinnen setzen die Macht des Tastsinns ebenfalls gezielt ein. Studien haben ergeben, dass Gäste, die von der Bedienung freundlich an der Schulter berührt werden, mehr Getränke bestellen. Wer sich aufgehoben fühlt, bestellt gern nach und bleibt noch etwas länger. Menschen, die regelmässig liebevoll angefasst werden, sind entspannter und gesünder. «Eine Berührung sagt mehr als tausend Worte, weil sie die erste Sprache ist, die ein Mensch versteht. Und die einzige, die er nie vergisst», schreibt Werner Bartens im Buch «Wie Berührung hilft».
Derzeit stapeln sich in den Läden Bücher, die von heilender Berührung handeln. Wie das Buch «Berührung. Warum wir sie brauchen und wie sie uns heilt» des Berliner Psychopharmakologen Bruno Müller-Oerlinghausen und der Körpertherapeutin Gabriele Mariell. «Die Haut ist gesellig, sie will aktiv sein und das heisst: Berühren», heisst es darin. Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich im Mutterleib entwickelt, und der letzte, der vor dem Tod erlischt. Lange bevor ein Embryo riechen und sehen kann, reagiert er auf Berührung. Schon nach acht Wochen. Ein Baby kann taub oder blind zur Welt kommen und gut gedeihen. Aber ohne Berührung bleibt es geistig und körperlich zurück. Auch Erwachsene welken ohne Berührungen dahin wie ein Blume ohne Wasser.