Wo ist bloss der einfache Händedruck geblieben? Dieser Tage begrüssen und verabschieden wir wieder Krethi und Plethi mit Kuss und Körperkontakt. Um Romantik geht es längst nicht mehr.
Man geht wieder auf Kontakt. «Hugging and kissing» – auf Englisch benennt sich’s irgendwie besser. In «Umarmen» hören wir offenbar immer noch mehr Leidenschaft als der Englischsprachige. Wobei man sich da auch täuschen kann. Aber: «Anfassen» muss auch mal nicht ganz unbelastet gewesen sein. Ob die Welt herzlicher geworden ist, seit man sich öffentlich wieder enger herzt, mag offenbleiben – auch wenn es nicht nur die Staatsmänner vermehrt tun. Unter sich, versteht sich. Wenn auch Staatsfrauen dabei sind, wird es heikler. Man denke an den aktuellen Präsidenten der EU-Kommission.
Es ist schon eine sehr schwierige Frage, wie man es machen muss.
Zwei, drei oder gar vier (Küsschen)? Wo beginnen (links oder rechts)? Zuerst die Hand geben und diese in der eigenen behalten oder gar einen Arm über die Schulter (oder gleich darüber herfallen)? Bei wem ist es angebracht (wie eng muss die Bekanntschaft sein)? Nach dem zweiten Treffen schon oder besser noch etwas zuwarten? Freundinnen der Freundin bis in welchen Rang? Eigene Verwandte bis zu welchem Grad?
Das Leben ist schwer geworden, seit die Begrüssungen überborden. Früher drückte man sich treuherzig die Hand, nicht zu fest, nicht zu lang, nicht an sich ziehen – und dem anderen in die Augen schauen! «Gnädige Frau» und den Handkuss überliess man einer Oberschicht, mit der man ohnehin keinen Kontakt hatte. Und auf der Strasse war es noch einfacher, seit man keine Hüte mehr trug. Zunicken – und mehr bedurfte es nicht.
Oft kommt man sich vor wie der bemitleidenswerte – oder gefürchtete – Mohr Monostatos, den Mozart und Schikaneder aus welchen Gründen auch immer in ihre «Zauberflöte» geschmuggelt haben: Alles «schnäbelt, tändelt, herzt und küsst», klagt er. Den Überdruss verspürt er allerdings, weil ihm die Liebe versagt bleibt. Immerhin reimt sich «ist» auf «küsst». Und er dient halt als Spiegelfigur zu den Happy-End-Liebenden Tamino und Papageno (eine gewisse Symmetrie muss sein).
Wie man es machen muss, da helfen einem unzählige Knigge- und Lifestyle-Kolumnisten. Warum es so geworden ist mit dem Küssen und Herzen, diese Frage ist viel schwieriger zu beantworten, wenn man überhaupt etwas findet.
Denn es ist eine eigenartige Sache mit dem Kuss. Er gehört zu zwei Welten.
Oder vielleicht markiert er sogar die zwei Welten, welche unsere Gesellschaft so sauber getrennt hat: die Welt des Sex und die andere. Wobei auch diese Trennung, so scharf sie einmal war, bereits wieder am Zerfliessen ist.
Geküsst wurde schon immer, wenn auch – wie uns Anthropo- und Ethnologen versichern – nicht überall. Am schärfsten unterschieden die Römer: Sie hatten «osculatio» als Oberbegriff, dazu das Verb «osculari». «Os» (Genitiv «oris», nicht «ossis», dann heisst es «Knochen») steht für «Mund» oder allgemein «Öffnung». «Osculum» ist die Verkleinerungsform, davon abgeleitet «osculari» kann dann nur «küssen, mit dem Mund liebkosen» heissen. Sich leidenschaftlich auf die Lippen küssen nannte der Lateiner «savium» – das konnten auch Männer. «Osculum» war in jeder Hinsicht neutral, ein (Freundschafts-)Kuss. Der Kuss, wenn Liebe im Spiel war, hiess «basium».
Das zeigt, dass Küssen schon immer mehrschichtig war.
Die Lippen sind natürlich sensorisch sehr empfindliche Körperstellen und deshalb erogene Zonen. Es gibt auch einen «Kussmuskel», musculus orbicolaris oris, er dient dazu, die Lippen zuzuspitzen. Gleichzeitig hat der Mund auch eine theologisch-philosophische Aufladung erfahren. Er ist der Ort, wo gleichzeitig der Leib ernährt wird und die Seele den Körper im Moment des Todes verlässt.
Die christliche Kirche hatte deshalb den «osculum pacis», den Friedenskuss.
Er fungiert als Austausch von Atem und zeigt, dass sich die Seelen berührten. Praktiziert wurde er allerdings meist, ohne dass sich die Lippen berührten, weil man da sexuelle Implikationen spürte. Bereits die Römer kannten den öffentlichen Kuss bei der Eheschliessung, womit bekundet wurde, dass sich hier zwei Seelen gefunden hatten – oder ein Mann und eine Frau zusammenbleiben wollten.
In der Renaissance trieb das der Gelehrte Francesco Patrizi in seinem Büchlein «El delfino» (um 1560) auf eine seltsame Spitze. Vom Neuplatonismus hatte er das Konzept der «spiritus» geerbt. Darunter verstand man eine Art Ausstrahlung der Seele, kleine materielle Bestandteile der Lebensenergie, die mit dem Blut im Körper herumtransportiert wurden. Diese sind flüchtig und wenn aufgebraucht, droht der Tod. In der Liebe oder der Verliebtheit – auch wenn sie nur platonisch ausgeübt wird, man ihr aber trotzdem nicht entgehen kann – wird natürlich eine erhebliche Menge an solcher Energie verbraucht. Patrizi interessierte sich glücklicherweise auch für Hydraulik. Und so proklamierte er, dass beim Küssen gewissermassen die Lebensfluida der Beteiligten ausgetauscht würden. Dass sich Liebende energetisch «voneinander ernähren» konnten.
Beim Kuss sieht man gut, dass wir nicht recht wissen, was wir mit einer Geste «meinen».
Das ist auch heute noch so. Man kann «sittsam küssen», aber was psychisch oder sonst abgeht, das sieht man nicht. Der Lippenkontakt kann alles sein: Er kann sexuell sein, er kann sozial sein, er kann sogar heilig sein. Und er kann romantisch sein.
Die Renaissance war die Geburtsstunde des romantischen Kusses. Das ist der zwar leidenschaftliche, aber völlig entsexualisierte Kuss. «Thus with a kiss I die» – «So mit einem Kuss sterbe ich». Das sagt Romeo bei Shakespeare. Und man sieht, dass hier auch Befreiung mitschwingt: Die Liebe, die sich trotz gesellschaftlicher Bande Bahn bricht, muss auch als Rebellion gegen Stand und Gesetz gesehen werden.
Dass das 20. Jahrhundert immer freizügiger wurde, ist trivial. Nicht trivial hingegen ist die Frage, was eher war: der Sex oder die Küsserei. Oft behilft man sich mit Formulierungen wie «einhergehen». Vielleicht kann man es dabei belassen. Wenn sexuell (fast) alles möglich ist, darf auch der gesellschaftliche Umgang freizügiger, also körperlicher werden. Und wo bleibt die Romantik? Vielleicht auf der Strecke.
Man prüfe selbst: Wie hast du’s mit dem Kuss?
Also dem richtigen, den man auch «französischen Kuss» nennt? Ist er ein Wegweiser zum Sex oder kann es auch dabei bleiben? Auch hier kommen wir nicht aus der Zweideutigkeit heraus.
Den Beleg liefert Hollywood. Anders als in der Literatur muss der Film deutlicher sein. Deshalb führte Hollywood die Zensur ein. Kein Anlass zur «Sünde», also keine Darstellung von Ehebruch, Bettszenen oder andere unerwünschte Folgen von Leidenschaft. Erlaubt war als Manifestation der Liebe einzig der Kuss. Wir kennen das: Zwei Gesichter nähern sich, die Lippen öffnen, die Augen schliessen sich – und dann schwenkt die Kamera, Lippen auf Lippen sieht man selten, dafür wackelnde Hinterköpfe, Leidenschaft pur. Aber nur der Kuss darf den Vollzug der Liebe manifestieren.
Immerhin ist der Kuss eine Handlung, welche man zu zweit exekutiert. Dies im Gegensatz zum Sex, wo sich durchaus Alternatives vorstellen lässt.