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Leben
Das Schauspielhaus Zürich atmet Geschichte. Seine Existenz verdankt es einem Weinhändler.
Der Stadtrat von Zürich favorisiert zurzeit den Abbruch des Schauspielhauses und einen Neubau an selber Stelle. Die Bühne soll weg. Zu verstaubt, völlig unmodern, zu alt. Bevor man zur Spitzhacke greift und die Bulldozer auffährt, könnte man wissen wollen, welchen Wert das Gebäude darstellt.
Zuallererst: Das Theater in Zürich ist nicht irgendeines. Es steht nicht in Wuppertal, Duisburg oder Innsbruck. Es steht in Zürich. Und das war vor etwa 80 Jahren nicht irgendein Ort – sondern der einzige, in der das Theater deutscher Zunge frei spielen konnte. Ohne Nazi-Spielplan, ohne KZ-Drohung, ohne Goebbels-Zensur. Zürich erlebte keine Bombennächte. Das Schauspielhaus durfte die Fahne der Freiheit hochhalten.
Natürlich war das kein Zufall. Dafür hatte jemand Jahre davor gesorgt. Dieser jemand hiess Ferdinand Rieser. Er war ein Zürcher Jude. Ihm gehörte eine Likörfabrikation. Er handelte auch mit Wein. Und er hatte eine Leidenschaft. Nein, eigentlich zwei. Er liebte das Theater – und seine Frau Marianne. Eine mondäne Jüdin aus gutem Prager Hause. Die jüngere Schwester des damals berühmten altösterreichischen Bestseller-Autors Franz Werfel.
Als ihm Anfang der 1920er-Jahre die vielen nutzlosen Diskussionen um ein gut geleitetes Theater in Zürich verleidet waren, nahm Rieser Mut und Geld in die Hand. Er erwarb die Mehrheit der Anteilscheine jener Genossenschaft, die das Schauspielhaus besass, und nahm nochmals Geld in die Hand und Hypotheken auf. Baute das Schauspielhaus im Sommer 1926 in ein regelrechtes Schmuckstück um, verbesserte die Akustik, zog eine Zwischendecke ein, verdoppelte die Bühnenfläche, baute einen Schnürboden, ein Bühnenhaus – liess den Stuck im Zuschauerraum entfernen und ihn vergrössern, erneuerte die Bestuhlung, liess Publikumsgarderoben erstellen. Die NZZ schrieb zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses:
«Energie und Idealismus für die Kunst haben ein hohes Werk zustande gebracht, das seinen Schöpfern und Zürich zur Ehre gereicht.»
Bald aber machte Rieser den nächsten Schritt und setzte sich als Theaterleiter ein. Den Unkenrufen zum Trotz – die Bühne rentierte. Woche für Woche gab es eine Premiere. Weniger Shakespeare vielleicht, mehr Komödie und Liebesschwank. Immerhin: Das Theater beanspruchte keine städtischen Subventionen. Rieser wollte unabhängig bleiben.
Das machte sich spätestens bezahlt, als sich die schlimmen Zeiten in Deutschland ankündigten. Rieser blieb nicht untätig. Er holte bereits für die Saison 1933/34 den Grossteil des später berühmten Emigrantenensembles nach Zürich – wir nennen nur fünf Namen: Regisseur Leopold Lindtberg, Schauspielerin Therese Giehse, Dramaturg Kurt Hirschfeld, Bühnenbildner Teo Otto.
Rieser kämpfte gegen die Nazibehörden um einen linken Schauspieler, dem die Zähne nach der Verhaftung herausgeprügelt worden waren und der im KZ Börgermoor in Norddeutschland einsass. Rieser organisierte dessen Flucht und sorgte für die Wiederherstellung des Mannes, damit er wieder im Rollenfach des Ersten Liebhabers auftreten konnte: Wolfgang Langhoff.
Rieser zahlte, entgegen allen Gerüchten, im schweizweiten Vergleich die besten Gagen. Sein Haus stand plötzlich künstlerisch über die Grenzen hinaus im Rampenlicht. Die besondere Lage und die Möglichkeiten dieses Theaters nutzte der Theaterdirektor. Literarische Uraufführungen von Ödön von Horvath und Else Lasker-Schüler. Politisch prononcierte Uraufführungen von Ferdinand Bruckners «Die Rassen» und Friedrich Wolfs «Professor Mannheim».
Rieser nahm gewalttätige Demonstrationen der Frontisten in Kauf – die Schweizer Nazis schimpften auf das «Judentheater am Heimplatz»: Rieser liess die «Dreigroschenoper» von Bertolt Brecht trotz starkem Gegenwind aufführen. Höhepunkt der Auseinandersetzungen: Die Frontisten zündeten eine Bombe am Schauspielhaus – notabene auf dem Herrenabort.
Der Stadtrat von Zürich bedauerte damals, nicht genügend «mässigenden Einfluss» auf die Schauspielhausleitung zu haben. So ein Theater war sehr unbequem und ein Unruheherd. Ein solcher blieb es bis 1938. Damals gab Rieser sein Haus zur Miete frei. Ein paar beherzte, eher linke Zürcher Bürger ergriffen die Gelegenheit, die Stadt übernahm Anteile am Theater, sicherte Subventionen zu. Das Theater war gerettet. Das Ensemble auch – wo hätte es auch hingehen sollen? Zürich war mittlerweile eine Insel. Der Zweite Weltkrieg stand bevor.
Heute gibt es noch immer keine Gedenktafel für den grossen Sohn seiner Stadt, der vielen Menschen das Leben gerettet hatte, der in seiner Heimatstadt ein Theater hingestellt hat, in dessen Mauern bis heute gespielt werden kann. Zürich will vielleicht lieber geschichtslos sein – eine saubere Oberfläche. So fällt es freilich leichter, sich über die Geschichte hinwegzusetzen, sich nicht erinnern zu müssen. Aber einen Gedenkort hat das kulturelle Zürich ja ohnehin: das Schauspielhaus. So, wie es heute da steht.
Nun ist klar, worum es geht, wenn wir über das Schauspielhaus Zürich sprechen: über ein Theater mit Geschichte. Jetzt geht und legt das Haus in Trümmer! Ihr müsst das nur übers Herz bringen.
Das Schauspielhaus Zürich hat mit dem Gebäude am Pfauen eine traditionsreiche Bühne, die − wenige Monate bevor der Gemeinderat über Abriss oder Erhalt berät − auf dem politischen Parkett hart umkämpft ist. Die Debatte köchelt seit Jahren. Ein Neubauprojekt des dänischen Architekten Jørn Utzon scheiterte in den 1960er-Jahren. Zuletzt wurde das Theater 1978 saniert.
Im November 2020 präsentierte der Zürcher Stadtrat seine Lösung: eine «umfassende Erneuerung» für rund 115 Millionen Franken. Der Abbruch sei die günstigste Lösung, eine sorgfältige Sanierung wäre teurer.
Der Zürcher, der Stadtzürcher und der Schweizer Heimatschutz auf der anderen Seite fordern: Der Pfauensaal muss als eines der wichtigsten Baudenkmäler der Theatergeschichte stehen bleiben. Mit dieser Forderung findet er Unterstützung bei der Dozierenden der ETH. Und ein Komitee um Verleger Matthias Ackeret fordert «Rettet den Pfauen». Der Verwaltungsrat des Schauspielhauses Zürich erklärt mit der Initiative «Pfauen mit Zukunft», warum ein Neubau, mindestens aber ein Umbau nötig ist.
Zwischen Neubau und Erhalt liegt wenig Raum für Kompromisse. Die Fronten gehen durch sämtliche Parteien. Sagt der Gemeinderat im Sommer Ja zum Projektierungskredit, wird die Bevölkerung entscheiden, ob und wie sie den Saal behalten möchte.
Das Schauspielhaus lanciert nun über «Pfauen mit Zukunft» eine Diskussionsreihe. In der ersten Runde wurde man sich zumindest einig: Ein Neubau von Pritzker-Preisträger Lacaton & Vassal könnte es sein. Ein Vorschlag, den das Hochbauamt notieren sollte, falls es tatsächlich zum Wettbewerb kommt. Eine gemeinsame Lösung würde dem Theater jedenfalls einen Gefallen tun. Das nächste Podium findet am 2. Juni voraussichtlich digital statt. (ray.)
* Peter Exinger hat über das Schauspielhaus Zürich dissertiert und arbeitet als Blattmacher bei der «Thurgauer Zeitung».