Gastroführer «Aufgegabelt»: In diesen Ostschweizer Genussadressen kann man einfach geniessen

«Aufgegabelt» ist eine sympathische Alternative zum «Gault & Millau». Hinter dem Führer mit 600 Adressen aus der ganzen Schweiz steht der im Jura wohnhafte Journalist Martin Jenni (59). Wir wollten wissen, wie er bei seiner Auswahl vorgeht.

Interview: Hans Graber
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Eine Genussadresse aus dem Buch "Aufgegabelt" ist das "Rössli" in Mogelsberg. (Bild: PD)

Eine Genussadresse aus dem Buch "Aufgegabelt" ist das "Rössli" in Mogelsberg. (Bild: PD)

Der «Gault & Millau» hat für 850 Beizen etwa 45 Tester zur Verfügung, «Aufgegabelt» für 600 Adressen anscheinend einen, nämlich Sie – wie schafft man das?

Ich habe drei Freunde, die mir helfen. Leute, die mit Zunge, Nase, Gaumen gleich denken wie ich, obwohl jeder das Ganze aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Ich habe einen Fundus an 900 bis 1100 Adressen in der Schweiz, und es werden monatlich mehr. Ohne diesen Fundus, den ich mir als freud­voller Beizengänger kontinuierlich ansammle, würde es nicht gehen. Hinzu kommt ein gutes Netzwerk, verbunden mit zahlreichen Tipps regionaler Gastronomen, die gut finden, was ich mache.

Trotz Netzwerk und Freunden: Überprüfen Sie alles selber?

Alle Adressen im Buch kenne ich. Die Kunst liegt im Verwalten und stetigen Überprüfen, ob die Momentaufnahmen noch so sind, wie beim letzten Besuch, oder ob sich die «Eintracht» in einen indischen «Tanduri» verwandelt hat, oder ob die gute Seele des Hauses, etwa die Oma Klara, gestorben ist. Aber obwohl ich regionale Helfer habe, kommt es leider vor, dass eine überholte Adresse durchschlüpft, doch damit haben alle gedruckten Guides zu kämpfen.

Wie sieht Ihr Budget aus?

Im Gegensatz zum «Gault & Millau» haben wir ein sehr bescheidenes Budget. Vieles passiert auf Freiwilligenarbeit. Ich finanziere meine Beizen- und Einkaufsbesuche selber, ein Budget gibt es dafür nicht. Andere investieren in Aktien, Statussymbole, Schmuck und Co., ich in Beizen und Produkte. Würde ich nicht so denken, dürfte ich erst gar nicht über so einen Guide sinnieren.

Welches sind die Kriterien, die Sie überzeugen, ein Lokal oder
einen Laden in «Aufgegabelt» aufzunehmen?

Das ist immer ein persönlicher Entscheid, der so weit geht, dass ich subjektiv mit einem Herz meine Lieblingsbeizen kennzeichne. Ins Gewicht fallen können ein Gericht, die Atmosphäre, die Geschichte, die Patina der Beiz, die Herzlichkeit und das Können der Gastgeber, die Philosophie, die Weinauswahl, Unbekanntes zu kleinem Preis, Leichtes, Mineralisches, Vins naturels (heute hip, gestern noch wurde ich deswegen ausgelacht), die Auswahl oder die Herkunft der Produkte. Es sind einzelne Punkte, die entscheiden, oder es ist das Ganze als Sammelsurium, das entscheidet. Wichtig ist aber, dass man die Texte im Buch liest.

Weshalb?

Weil erst da deutlich wird, weshalb ich ein Haus schätze. Die Texte beschreiben das, was ich bei meinen Besuchen subjektiv erlebe und empfinde. Dabei ist meine Freundin immer eine wertvolle Hilfe, die eine begnadete Hobby-Köchin ist, über einen ausgesprochen feinen Gaumen verfügt und meine Auswahl mitbeeinflusst.

Haben Sie sich schon tüchtig geirrt?

Tüchtig geirrt, nein, wobei zahlreiche Adressen nicht mehrheitsfähig sind. Das betone ich auch im Buch. Ich habe in den Jahren ein Gespür dafür entwickelt, für das, was für mich das Richtige ist. Dass sich eine Beiz aber anders entwickelt, als ich erwartet habe, das ist schon einige Male passiert. Und natürlich gibt es Adressen, die aus diversen Gründen abfallen oder sich zum Negativen verändern, plötzlich mehr sein wollen, als sie sind oder über Nacht ihre patinierte Beiz in einen Trendschuppen verwandeln. Trends kommen und gehen, die ungekünstelte Beiz, die auf Qualität setzt, bleibt.

Dass der Führer nun jährlich erscheint, deutet daraufhin, dass es
ein grösseres Bedürfnis danach gibt. Was könnten Gründe dafür sein?

Kochen, lokale und regionale Produkte, die Verwertung des ganzen Tiers, das alles liegt im aktuellen kulinarischen Fluss. Viele Konsumenten haben genug von der preislich hochsegmentierten Baukasten- und Pinzettenküche, sie freuen sich über eine einfache, reelle und nachhaltige Kochsprache, die den Gaumen und die Brieftasche fordern darf, aber nicht überfordern.

Martin Jenni , Genussjournalist und Buchautor:
«Viele Konsumenten haben genug von der preislich hochsegmentierten
Baukasten- und Pinzettenküche.»

Genügen Internetportale wie Tripadvisor & Co. nicht?

Ich bin ein Gegner von Tripadvisor, wo sich jeder Beizengänger zum Scharfrichter aufspielen kann, bösartige Kommentare verfasst oder frei von der Leber weg Unwahrheiten platziert, die dann für ewig im Netz stehen bleiben, ohne dass sich der Getadelte wehren kann. Dies nur, weil der Gast schlechte Laune hat, sich in seinem Ego verletzt oder vom Gastgeber nicht verstanden fühlt. Die Kunst des Lobens und Kritisierens vor Ort in der Beiz haben zahlreiche Gäste verlernt. Dazu benötigt es Charakter, Mut und die Kunst, die richtigen Worte zu finden. Sich danach im Internet als Henker aufzuspielen, ist hingegen unfair und vollkommen unnötig.

3 Exemplare zu gewinnen

Wir verlosen drei Exemplare des Buches «Aufgegabelt 2019» aus dem AT-Verlag. So sind Sie dabei: Schreiben Sie bis spätestens Montag, 29. Oktober, 24 Uhr, ein E-Mail mit dem Wort «Aufgegabelt» in der Betreffzeile und Ihrer Adresse an verlag@tagblatt.ch. Viel Glück! (red)

Sie haben ein paar Beizen drin, die auch im «Gault & Millau» stehen.

Ja, aber wir unterscheiden uns trotzdem sehr deutlich, sind individueller, eigenwilliger, schreiben über zahlreiche Einkaufsläden und über spezielle, nicht im Luxussegment agierende Übernachtungsadressen. Ich schreibe auch keine Beiz in den Keller. Das heisst nicht, dass ich nicht konstruktiv kritisiere, ironisch hinterfrage oder auf Eigenheiten hinweise – sammeln sich bei mir aber zu viele Negativpunkte an, wird die Adresse einfach gelöscht. Was mir auffällt: Der «Gault & Millau» schreibt mittlerweile über Beizen, die vor einigen Jahren noch nicht in seinem Raster lagen. Ich preise seit 18 Jahren in den Medien den einfachen Geschmack, bevor er jetzt anscheinend mehr und mehr zum Trend wird.