Zum Tod von Yves Yersin: Ein Unbotmässiger des Schweizer Films

Der Westschweizer Filmregisseur Yves Yersin ist im Alter von 76 Jahren nach langer Krankheit gestorben. Mit «Les petites fugues», bis heute einer der erfolgreichsten Schweizer Filme, hatte er das Publikum erobert.

Geri Krebs
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Regisseur Yves Yersin (1942 - 2018) bei der Präsentation seines Films «Tableau Noir» beim Filmfestival Locarno 2013. (Bild: KEYSTONE/Urs Flueeler)

Regisseur Yves Yersin (1942 - 2018) bei der Präsentation seines Films «Tableau Noir» beim Filmfestival Locarno 2013. (Bild: KEYSTONE/Urs Flueeler)

Ein pensionierter Bauernknecht, der mit einem Motorfahrrad seine Welt erkundet und irgendwann in die Lüfte abhebt: Mit dieser Szene aus «Les petites fugues» ist Yves Yersin weltberühmt geworden. Der 1977 gedrehte Film mit dem damals erst 47-jährigen Michel Robin als Knecht avancierte zu einem der erfolgreichsten Schweizer Spielfilme aller Zeiten. Fast eine halbe Million Zuschauer erreichte das herzerweichende Kinomärchen hierzulande und es war auch für die Oscars nominiert.

Doch seine Entstehung war eine schwierige Geburt gewesen, es gab massive Budgetüberschreitungen und Streitigkeiten unter den Beteiligten. Erst 1979 erlebte er seinen Triumph in den Kinos. Es blieb der einzige Spielfilm von Yves Yersin, der Anfang der 1960er Jahre eine Ausbildung als Fotograf und Kameramann in Vevey absolviert und dann jahrelang Auftragsfilme realisiert hatte.

Er möchte Realität, wie sie sein könnte, darstellen

Er drehte dann in der zweiten Hälfte der 1960er einige ethnografische Kurzdokumentarfilme, die Titel trugen wie «Le panier a viande», «Les cloches des vaches» (ersteren zusammen mit Jacqueline Veuve) bevor er 1973 seinen ersten langen Kinofilm «Die letzten Heimposamenter» realisierte. Der vielschichtigen Dokumentarfilm über die letzten Heimbandweber im Kanton Basel-Land, die es damals gerade noch gab, war eine kluge Analyse über die soziale, ökonomische und kulturelle Situation einer ganzen Region.

Die Agenturen haben in ihrer Meldung zu Yves Yersins Tod daraus jetzt flugs einen Spielfilm gemacht. Vielleicht hätte Yves Yersin diese Falschmeldung sogar gefallen. Als Regisseur von Dokumentarfilmen könne er immer nur Realität, wie sie ist, darstellen, strukturieren, transparent machen, hat er einmal gesagt. Aber er als Cineast möchte er ja auch Utopie, Realität, wie sie sein könnte, darstellen, und das könne er nur im Spielfilm. Nur deshalb habe er «Les petites fugues» gemacht.

Nach den Turbulenzen um diesen Film verlegte sich Yves Yersin dann vermehrt auf Arbeiten fürs Westschweizer Fernsehen. 1985 gründete er in Lausanne an der Ecal (Ecole Cantonale d'art de Lausanne) die Filmabteilung Davi, wurde ihr erster Leiter. Einer seiner heute bekanntesten Schülern ist Jean-Stéphane Bron («L'experience Blocher», «Cleveland vs. Wallstreet»). Er sagt über seinen einstigen Lehrer:

« Von ihm habe ich alles gelernt. Dass es keine grossen oder kleinen Projekte gibt. Dass nur die Qualität des Blicks wichtig ist. Dass jede Einstellung ihren Grund hat. Und dass gedankliche Tiefe von der Einfachheit kommt.»

Diese Grundsätze, aber auch die Sehnsucht nach Utopie kennzeichnen auch Yves Yersins letzten Kinofilm, seinen einzigen, den er nach «Les petites fugues»noch realisiert hat: «Tableau noir». Der zwischen 2005 und 2008 gedrehte Dokumentarfilm über die entschwindende Welt eines alten Dorfschullehrers in einem Weiler auf den Höhen des Neuenburger Juras feierte seine Premiere 2013 am Filmfestival von Locarno, feierte Triumphe beim Publikum.

Ungefragt ergriff er in Locarno das Mikrofon

Die lange Zeit zwischen Dreh und und Fertigstellung war bedingt durch die ungeheure Materialfülle, die Yersin zusammen mit seinem Kameramann Patrick Tresch und seinem Bruder Luc gedreht hatte. Nun wurde «Tableau noir» zu Yersins Vermächtnis. Das Herzblut, das in dieser Ode an ein analoges Zeitalter und an die Schönheit von Solidarität und Hilfsbereitschaft steckt, macht auch die Reaktion verständlich, als er in Locarno 2013 zum Befremden des Publikums nur eine «Mention» erhielt.

«Eine 'mention' ist nichts als ein wertloser Fetzen Papier, die Festivals und die Jurys sollten aufhören, uns Cineasten damit zu beleidigen», sagte er damals am Abschlussabend auf der Piazza Grande, nachdem er ungefragt das Mikrofon ergriffen hatte. Der Applaus war tosend, die Übersetzerin strafte den damals 71-jährigen Yves Yersin für die Unbotmässigkeit mit Nicht-Übersetzen ab.

Am 15. November verstarb er im Alter von 76 Jahren nach langer Krankheit an seinem Wohnort Baulmes VD. Einer wie Yves Yersin wird uns fehlen.