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Schauspieldirektor Jonas Knecht inszeniert am Theater St. Gallen «Der Prozess» nach Franz Kafkas Romanfragment. Knecht und sein Schauspiel- sowie Puppenspiel-Ensemble finden eine mutige Setzung mit beeindruckender Ästhetik. Trotzdem geht der Abend nicht ganz auf.
Was für eine Welt: Zerteilte Körper hocken auf reinweissen Sockeln. Da ein übereinandergeschlagenes Beinpaar, hier kauert ein Torso, dort reckt jemand einen Kopf in der Hand in die Höhe. Schuhpaare tanzen im Moonwalk über den schneebestäubten Boden.
Häusergerippe schweben über allem. Das Leben, das normale häusliche Leben, es hat sich aufgelöst, ist unerreichbar für Josef Ka. Verzweifelt versucht Ka, dem ein Prozess droht und er weiss nicht warum, sich zu retten, irgendwie. Gerichtsmaler Titorelli soll helfen. Doch der drapiert seine Skulpturen, und Ka wird selber zu einer, hilflos gefangen.
Seine Bankkollegin Fräulein Bürstner holt ihn aus der Kunstausstellung raus und nimmt ihn mit ins Theater. Dort schaut Ka zu seinem Entsetzen seinem eigenen Prozess zu.
Jonas Knecht hat St.Gallen einen mutigen Theaterabend beschert. Der Schauspieldirektor bringt «Der Prozess» (nach Franz Kafkas Roman) auf die Bühne im Grossen Haus. Der Clou: Die Puppen, die zweieinhalb Stunden mit den Schauspielerinnen und Schauspielern interagieren, als wären sie lebendig. Eine albtraumhaft verzerrte Welt entspinnt sich um Josef Ka.
In Anita Augustins Überschreibung von Kafkas Romanfragment ist Josef Ka kein einfacher Prokurist, sondern Chief Investment Officer und Portfoliomanager bei der Privatbank «Gallus und Söhne». Ausgerechnet auf der Firmenfeier, bei der er zum Mitarbeiter des Jahres gekürt wird, wird Ka verhaftet. Warum, erfährt er nicht. Er ist sich keiner Schuld bewusst.
Jonas Knecht und sein Team versetzen Kafkas Romanfragment (geschrieben 1914, postum veröffentlicht 1925) in einen modernen Albtraum. Kas Mitarbeiter Kullich, Kullich und Kullich: eine fiese Mutation von Alexa oder Siri. Überwachung lauert überall, Kullich speichert Sprachnachrichten, sagt Wetter- und Kursprognosen auf, berechnet Routen, bedrängt Ka, fast bemächtigt er sich seiner.
Das ist eine spannende Weiterdrehung der Vorlage. Trotzdem geht der Abend nicht ganz auf. Das Problem: Bei Augustin und Knecht macht sich Ka schuldig. Immer wieder flammt das Licht kurz im Zuschauerraum auf, eine Stimme vom Band erklärt einen Paragrafen aus dem Schweizerischen Strafgesetzbuch. Kas Vergehen: Beamtenbeleidigung, Vernichtung von Urkunden, Bestechung, Raufhandel mit Todesfolge, Verleumdung, Angriff auf die sexuelle Freiheit und Ehre.
Diese überdeutliche Setzung kommt pädagogisch daher – und nimmt dem Abend das Kafkaeske. Franz Kafka liess offen, ob Josef K. sich etwas zuschulden hat kommen lassen. Die St.Galler Setzung zeigt mit dem Holzhammer: So wie Ka ist jeder schuldig, macht sich jeder ständig schuldig.
Die Ausstattung und die Verschmelzung von Puppenspiel und Schauspiel sind hingegen ein grosser Wurf. Allein schon deswegen lohnt ein Theaterbesuch. Wie die Studierenden der Ernst-Busch-Schule Berlin mit den Figuren und Puppenkörperteilen agieren, ist beeindruckend und war so noch nie auf der St.Galler Bühne zu sehen.
Der nicht enden wollende Albtraum zerstört Josef Ka (Fabian Müller) immer tiefer, vom eloquenten, energetischen Banker bleibt ein Bündel Verstörung. Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos, sagt der Direktorstellvertreter einmal. Die Kerze auf dem Geburtstagskuchen flackert wie ein Grablicht.