Das Theaterstück im St. Galler Theater 111 basiert auf den Ereignissen des verjährten Doppelmordes bei der Kristallhöhle Kobelwald. Es zeigt eindrücklich, wie Trauer einen Menschen zerstören kann.
Fast 30 Jahre lang hat Sandra Schärer versucht, Polizei und Staatsanwaltschaft dazu zu bewegen, den Mordfall an ihrer Zwillingsschwester Sabina von neuem aufzurollen. Hunderte Briefe hat sie geschickt, hat angerufen und sogar vor dem Gerichtsgebäude campiert. Nun steht die Verjährungsfrist drei Wochen bevor und Sandras Verzweiflung wächst. An diesem Punkt beginnt Dietmar Pauls Stück «Höhlenmord», das am Freitag im St. Galler Theater 111 Premiere feierte.
Unter einem Vorwand lockt Sandra Schärer den Staatsanwalt Urs Brunner, der seit vier Monaten im Amt ist, an den Ort des Mordes: Im Stück ist es eine Bernsteinhöhle. Hier will sie von ihm einen Namen. Sie hat selbst ermittelt und zwei Hauptverdächtige recherchiert. Nun will sie Staatsanwalt Brunner zwingen, den Mordfall an ihrer Schwester und deren Freundin wieder aufzurollen.
Das Stück erinnert an einen Zweikampf, in dem Sandra verzweifelt versucht, Überhand zu gewinnen. Die Schauspielerin Eveline Ketterer zeigt überzeugend das emotionale Wechselbad zwischen unterdrückter Wut, versuchter Coolness und absoluter Verzweiflung bis zum Zynismus.
Tobias Stumpp spielt Urs Brunner als arroganten, etwas kaltschnäuzigen Anwalt, der zwischen Sandras Wutanfällen und wehmütigen Erinnerungen nüchtern die Fakten des Falls streut. Als Rückblende inszeniert Autor und Regisseur Dietmar Paul auch einen Brief, den Sandra an Brunner geschrieben hat. Dabei sind Sandras Augen verbunden, Urs führt sie und spielt mit ihr wie mit einer Puppe. Das Bild zeigt eindrücklich, wie machtlos sich Sandra gegen die Mühlen der Justiz fühlt. Doch Brunners Überheblichkeit verfliegt, als er bemerkt, dass Sandra ihm das Schlafmittel Rohypnol in den Wein gemischt hat.
«Höhlenmord» basiert auf den Ereignissen aus dem Jahr 1982, als zwei Teenagermädchen aus Goldach während einer Velotour bei Kobelwald verschwanden. Neun Wochen nach ihrem Verschwinden wurden die Leichen der Mädchen unterhalb der Höhle entdeckt. Der Mord wurde nie aufgeklärt, 2012 verjährte er. Autor Dietmar Paul hat mit seinem Stück aber keinen Krimi geschrieben. Er präsentiert dem Publikum keinen Täter. Sondern verwirrt die Zuschauer, indem er dem Stück drei mögliche Ausgänge gibt. In der dritten Version zeigen die Schauspieler die ehrlichste Version ihrer Figuren. Hier wird klar: Der Mörder hat nicht nur Sabina und ihre Freundin getötet, seine Tat hat auch Sandra zerstört. Sandra, die ihr Leben lang glaubte, ihre Zwillingsschwester ersetzen zu müssen. «Es schmerzt, wenn die Menschen dich ansehen und du weisst, sie sehen nicht dich, sondern den Teil, der fehlt, den Teil, den sie verloren haben.» Sandra und Urs kehren ihr Innerstes nach aussen, erzählen von ihren misslungenen Leben – und sitzen am Ende beide als Verlierer da.
Weitere Vorstellungen im November, Daten unter dasklima.ch