«Wir müssen die Frage der Menschlichkeit wieder stellen»

Regisseur Pierre Massaux setzt im St. Galler Theater 111 die Worte Wilm Hosenfelds mit Flüchtlingen in Szene. Der Offizier hat im Zweiten Weltkrieg im Warschauer Ghetto einen jüdischen Pianisten gerettet. Im Publikum sass auch Hosenfelds Tochter.

Mirjam Bächtold
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Avin Hosseiny reibt sich als Annemarie Hosenfeld die «Stalingrader Erde» ins Gesicht. (Bild: Urs Bucher)

Avin Hosseiny reibt sich als Annemarie Hosenfeld die «Stalingrader Erde» ins Gesicht. (Bild: Urs Bucher)

Ein würfelförmiger Brunnen plätschert in der Mitte der Bühne, ­dahinter steht ein Balken, davor liegt Erde auf dem Boden. Ebenso minimalistisch wie das Bühnenbild sind die Kostüme – alle Darsteller tragen Jeans und ein weinrotes T-Shirt. Die spartanische Ausstattung gibt Raum für die Sprache, für die Worte Wilm Hosenfelds und seiner Frau Annemarie. Die reiche Sprache des deutschen Offiziers wird umso eindringlicher, wenn man bedenkt, dass die Asylbewerber und Flüchtlinge auf der Bühne jedes Wort verstehen lernen mussten, denn sie sind erst dabei, Deutsch zu lernen.

Pierre Massaux’ Inszenierung im Theater 111 ist kein Stück mit klassischer Rollenverteilung. Im Zentrum steht der Briefwechsel zwischen Wilm und Annemarie und im zweiten Teil Wilms Tagebücher. Hosenfeld war jener Offizier, der den jüdischen Pianisten Władysław Szpilman rettete. Diese Geschichte ist bekannt aus Roman Polanksis Film «Der Pianist». In Massaux’ chorischer Inszenierung wird die Geschichte aus Wilms Perspektive erzählt. Die zwei Frauen und sieben Männer schlüpfen auf der Bühne alle in die Rolle Wilms.

Bilder entstehen im Kopf

Pierre Massaux lässt die Darsteller mit einer Choreografie beginnen, die unter die Haut geht. Zur Musik aus der Matthäuspassion stehen alle mit gesenkten Köpfen da, Avin Hosseiny kniet im Vordergrund und zittert am ganzen Körper, als würde sie vor Weinen durchgeschüttelt. Sie nimmt eine Handvoll Erde und streicht sie sich ins Gesicht. Es ist die Stalingrader Erde, die «heute die ­irdischen Reste meines Mannes birgt», sagt Avin Hosseiny als Annemarie Hosenfeld. Das Stück beginnt mit dem Tod Hosenfelds in russischer Gefangenschaft und geht dann zum Tag des Abschieds zwischen Wilm und seiner Familie.

Im starken Monolog zeigt Avin Hosseiny ihre Sehnsucht und innere Zerrissenheit und hat am Ende Tränen in den Augen. Im zweiten Teil kommen Texte aus Wilm Hosenfelds Tagebüchern auf die Bühne, in denen er die Gräuel der Nazis im Warschauer Ghetto schildert. Etwa wie Säuglinge von der jüdischen Entbindungsstation geholt, in ­Säcke gesteckt und auf Wagen gelegt wurden, wo man sie noch wimmern hörte. Auch der Transport nach Treblinka – ohne Essen und Wasser – wird eindrücklich geschildert. Die Bilder entstehen nicht auf der Bühne, sondern in den Köpfen der Zuschauer. Und man fragt sich, welche Schicksale die Darsteller selbst in heutigen Kriegen erlebt haben.

Eine der Zuschauerinnen ist Jorinde Krejci-Hosenfeld, Wilms Tochter. «Ich bin beeindruckt. Es ist eine völlig neue Art, mit den Texten meiner Eltern umzugehen», sagt die 86-Jährige. Schön fand sie, wie die Partien ihrer Mutter und ihres Vaters gegenübergestellt wurden und wie die Liebe in den grossen Kontext ­ des Krieges eingeordnet wurde. «Dieses Thema kann gar nicht oft genug aufgegriffen werden. Wir müssen uns die Frage der Menschlichkeit stellen, denn der Respekt droht wieder verloren zu gehen.» Jorinde Krejci kannte ihren Vater nur sieben Jahre lang. Seine Gedanken begleiteten sie aber ihr ganzes Leben. Nun führt sie sein Erbe weiter.

Weitere Vorstellungen: www.theater111.ch