Die grossen Lieder von Fremde und Einsamkeit: Christian Spuck bringt mit dem Ballett Zürich Schuberts Liederzyklus «Winterreise» auf die Bühne. Seine Choreografie zeigt eine albtraumhaft kalte Welt. An der Premiere begeisterte ein junger Sänger, der für den erkrankten Startenor einsprang.
Ein kahler Raum. Nackte Betonwände, Leuchtstoffröhren werfen fahles Licht. Stille. Einer löst sich aus dem erstarrten Menschenknäuel, schreitet zaghaft nach vorne, als wisse er selber nicht genau, warum er geht. Und wohin. In die Stille mischt sich ein leises Scharren, wie Schritte durch angefrorenen Schnee. Ein drängender Rhythmus setzt ein, Schritte Schritte, vorwärts vorwärts – aber wohin? Die schwarz Gekleideten suchen, erstarren in Bewegung, stumme Münder formen sich zum Schrei.
Da schmiegt sich die berühmte Melodie wie ein zarter Hauch über die albtraumhafte Welt: «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.» Der Tenor steht im nur halb abgesenkten Orchestergraben des Zürcher Opernhauses. Und wie er die ersten Takte singt, während auf der Bühne Rastlose nach dem verlorenen Glück suchen, das vielleicht nie da war, spürt man die Macht der Gefühle.
Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck hat einen dichten Abend erschaffen. Nach wenigen Minuten erliegt man seiner Erzählkraft. Spuck reduziert die Winterreise auf ihren Kern. Er lässt keinen Wandererhauptdarsteller plakativ durch die Welt stapfen. Zwischen tiefer erfüllter Liebe und kalter Todeseinsamkeit oszilliert seine Choreografie. Er findet mit seiner gesamten Compagnie grosse, schlichte Bilder. Pur. Assoziativ. Verfremdet. Jedes Lied ein neuer Kosmos.
Schauerliche Lieder nannte Franz Schubert seine «Winterreise». Als er die ersten zwölf Gesänge im Frühjahr 1827 seinen Freunden vorspielte, waren die über die düstere Stimmung verblüfft. Nur ein Lied fand Gefallen: der lebensfrohe «Lindenbaum». In Schuberts Liederzyklus kreist der Wanderer um sich, steckt in Melancholie und Einsamkeit fest. Einen Ausweg gibt es nicht. Noch nicht mal Hoffnung.
Heute gilt die «Winterreise» als Ikone des Liedgesangs, als Höhepunkt der romantischen Liedkunst. An jeder Note von Schubert, an jeder Silbe von Wilhelm Müller haben sich Generationen von Interpreten abgearbeitet. Der Liederzyklus liegt begraben unter einem Deutungsberg.
Christian Spuck legt ihn frei. Selten sah man grössere Traurigkeit im Theater. Schon der Raum, den Rufus Didwiszus entworfen hat: graue Wände, kalt ausgeleuchtet. Manchmal schneit es. Und trotzdem strahlt die Kälte, die Spuck, Didwiszus und Kostümbildnerin Emma Ryott auf die Bühne bringen, eine Schönheit, manchmal sogar Wärme aus.
Spuck wählt die Neukomposition von Hans Zender. Dessen Fassung der «Winterreise» für Orchester verstärkt die Tiefe der Schubert-Melodien. Akkordeon, Windmaschine oder auch Mundharmonika überraschen. Emilio Pomàrico erkundet mit der Philharmonia Zürich verstörende Gefühle.
Doch die grösste Überraschung steht an der Zürcher Uraufführung im Orchestergraben neben dem Dirigenten. Diesen Schneid muss man erst mal haben. Da hat man als Zweitbesetzung geprobt, soll laut Programmheft zwei Vorstellungen singen, stand noch nie auf der Bühne des Zürcher Opernhauses. Und plötzlich heisst es: Der Startenor ist krank, sing die Premiere.
Der junge Tenor Thomas Erlank, seit dieser Spielzeit Mitglied des internationalen Opernstudios der Oper Zürich, meistert die Aufgabe fokussiert und mit Bravour. Anfangs noch mit zu viel Schmelz, findet er rasch zu sich und trägt den Abend stimmlich wie inhaltlich, lotet die Lieder mit Poesie aus. Einige wenige Textunsicherheiten fallen nicht ins Gewicht.
Krähenschwärme, trauernde Frauen auf dem Totenacker, kettenrasselnde Hunde, Lindenbäume schwarzen Todesengeln gleich – Spuck findet für Schuberts Lieder bildgewaltige Übersetzungen. Und schafft es, Erstarren in Bewegung umzusetzen. Nicht alle Szenen sind gleich stark gelungen. Manchmal hat es der Tanz schwer, sich gegenüber Musik , Gesang und Übertitelung zu behaupten.
Doch nach diesem Ballettabend ist klar: eine klassische Winterreise, vorgetragen von zwei Herren im Frack, mag man nicht mehr anschauen. Die tiefe Durchdringung der Winterreise, wie sie Spuck, seinem Team und seiner Compagnie geglückt ist, wird auf einer Konzertbühne nicht stattfinden können.
Vorstellungen «Winterreise» bis 2. Dezember 2018.;Termine unter opernhaus.ch