In Genf gewann ein Genfer: Mit drei Preisen an «Ceux qui travaillent» stand die Verleihung im Zeichen des Autorenfilms und der Frauen. Für witzige Momente sorgten «Wolkenbruch» und Jeff Bridges.
Das Bâtiment des Forces Motrices ist in die frühabendliche Märzsonne getaucht. Zum vierten Mal ist der stattliche Bau inmitten der Rhone, früher Kraftwerk, heute Oper, Austragungsort der Verleihung des Schweizer Filmpreises. Die ehemalige Industrielandschaft rundherum hat sich verändert. Man kommt an einer Ballettschule vorbei. Vor dem Eingang des Gebäudes gibt es zwei Bars, wo Genfer und auch einige Filmpreis-Gäste zu einem Apéritif die letzten Sonnenstrahlen geniessen. Aus edlen Wagen, aber auch Taxis steigen weitere Besucher. Die meisten aber kommen zu Fuss, am Flussufer entlang. Die Ballettstunde ist jetzt wohl um.
Drinnen füllt sich der Saal. Die Nominierten werden abgefangen und gestaffelt über den roten Teppich geschickt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Schade eigentlich. Sie bekommen ein Sektglas in die Hand gedrückt. Auf den Tischchen stehen Gläser mit Blätterteigstangen. Sie sind schnell leer. Freudiges Wiedersehen hier und da. Der Geräuschpegel steigt im langen, hohen Saal, bis dieser irgendwann komplett im Hall der Gespräche der grossen Schweizer Filmfamilie versinkt.
Die Pre-Show mit eigens hergestellten Videoeinspielern, in denen etwa die nominierten Kameramänner Peter Indergand («Eldorado») und Gabriel Sandru («Der Unschuldige») ihre spezifische Herangehensweise erklären, gehen fast komplett im allgemeinen Gerede unter. Dann gilt’s ernst. Komödie oder Tragödie?
«Wolkenbruch» liegt mit insgesamt fünf Nominierungen vor «Ceux qui travaillent» und «Der Unschuldige» mit je vier. Doch wer sich im Saal umhörte, hat schon vor Beginn der Show keine Zweifel daran, dass «Ceux qui travaillent» gewinnen würde. Diese präzise beobachtete Studie über den Zustand unserer Gesellschaft des 1984 in Genf geborenen Antoine Russbach.
Die Entscheidung der Schweizer Filmakademie muss ziemlich einhellig gefallen sein. Knapp 5000 Leute nur haben den Film im Kino gesehen, etwa 1500 in der Deutschschweiz, die restlichen 3500 in der Romandie. Damit sind die Zahlen immer noch etwas besser als bei «Blue My Mind», dem letztjährigen Gewinner in der Kategorie «Bester Spielfilm». 4229 Besucher hatte das eigenwillige, starke und kompromisslose Pubertätsfantasydrama, die allermeisten davon in der Deutschschweiz.
281 104 Zuschauer hatte «Wolkenbruch», doch Komödien haben’s schwer bei Preisverleihungen. Dafür gehen die zwei lustigsten und unbeschwertesten Momente an diesem Freitagabend in Genf an «Wolkenbruch». Der erste: Die Moderatorin übergibt an ihre Kollegin im Saal, die je eine Frage an die für den Drehbuchpreis Nominierten Antoine Russbach, Simon Jaquemet und Thomas Meyer richtet. Diese geht an Meyer: «Was gefällt Ihnen besser, das Buch oder der Film?» Der Autor durchbricht geschickt das Frage/Antwort-«merci, bonne soirée»-Muster und zieht schlagfertig den Kopf aus der Schlinge:
«Ich bin schon mit den Nerven am Ende, und Sie fragen mich so was.»
Der zweite «Wolkenbruch»-Moment ist der, als Joel Basman unter tosendem Applaus locker-lässig den Preis für den Besten Darsteller entgegennimmt:
«Danke, Steini, mer händs wederemol gmacht.»
Er verabschiedet sich tänzerisch von der Bühne. Zu tanzen, zu singen, zu lachen oder zu weinen versprach Sarah Sophia Meyer auf dem roten Teppich für den Fall, sollte sie für ihre Rolle der Anna in «Zwingli» gewinnen. So weit kommt es nicht. Der Darstellerinnenpreis und somit der einzige Quartz für «Der Unschuldige» geht in diesem Kopf-an-Kopf-Rennen an Judith Hofmann.
Waren #MeToo und Time’s-up 2018 noch ein Thema, sorgten 2019 schon die Nominationen für einen Time’s-up-Moment. Es sind mehr Frauen nominiert als Männer, in der Kategorie «Beste Darstellung in einer Nebenrolle» gar nur Frauen. In den Kategorien Dokumentarfilm und Kurzfilm siegen schliesslich Anja Kofmel mit «Chris The Swiss», von ihrem Mitkonkurrenten Markus Imhoof als «verblüffend, sensibel und intelligent» gewürdigt, und die Luzernerin Corina Schwingruber Ilić mit «All Inclusive».
Eine schöne Überraschung ist die Vergabe zweier Spezialpreise an die Set Designerin Su Erdt und Kostümbildnerin und gebürtige Luzernerin Monika Schmid für ihre Arbeit an «Zwingli», Kategorien, die es beim Schweizer Filmpreis (noch) nicht gibt.
Das eigentliche Highlight der Show aber ist das Gleiche wie vergangenes Jahr.
Ganz der Dude, überreichte damals Hollywoodschauspieler Jeff Bridges seinem Maskenbildner Thomas Nellen den Spezialpreis. Man nutzte die Gelegenheit und engagierte Nellen heuer als einen der Präsentatoren – und zeigt die letztjährige Videobotschaft von jenseits des Atlantiks gleich nochmals. Weil’s so schön war.
Man darf mit der Vergabe der Preise rundum zufrieden sein. «Ich muss jetzt erst mal etwas essen», heisst es danach allenthalben. Bevor man ins nächste Gespräch verwickelt wird, stellt man sich geduldig in die Schlange für den Cocktail dînatoire – die Blätterteigstangen hielten nicht lange.
Gestärkt machen sich einige Deutschschweizer Gäste dann bereits auf den langen Heimweg. Die Ballettschule liegt im Dunkeln, dafür hat die Bar daneben aufgemacht. Eine Gruppe junger Männer steht draussen und unterhält sich lautstark, aufgekratzt von den Verheissungen der noch jungen, einigermassen lauen Freitagnacht in Genf.