Die Tanzkompanie Rotes Velo macht sich in ihrer neuen Produktion «Ich bin…Punk» auf eine spartenübergreifende Identitätssuche und schont dabei weder sich noch das Publikum. Das ist unterhaltsam, aber nicht immer ganz schlüssig.
ST. GALLEN. Stellen Sie sich vor, Sie wollen an die Premiere einer Tanzproduktion. Doch plötzlich stehen Sie alleine auf der Bühne und alle Blicke richten sich auf Sie. Dieser Albtraum ist wahr geworden bei der Premiere von «Ich bin…Punk», der neuen Produktion der Tanzkompanie Rotes Velo, die von Exequiel Barreras und Hella Immler geleitet wird.
Am Sonntagabend, kurz vor acht, herrscht im Foyer der Grabenhalle gespannte Erwartung, denn noch wird niemandem Einlass gewährt. Dann, endlich, darf das Publikum gestaffelt den Raum betreten. Und kaum ist man drin, ist man auch schon auf der Bühne und wird von den Künstlern in die Inszenierung integriert. Eine verwirrende Erfahrung – plötzlich ist nicht mehr klar, wer hier Tänzer, und wer Zuschauer ist. Der irritierende Auftakt katapultiert das Publikum gleich mitten ins Thema der Produktion, die sich um die menschliche Identität dreht.
Wer bin ich? Was macht mich aus? Wann und wie verändere ich mich? Dies sind Fragen, denen sich an diesem Abend insgesamt neun Künstler in teilweise höchst unterschiedlichen Episoden annähern. Gleichberechtigt nutzen sie die Möglichkeiten von Schauspiel, Tanz und Video. Auch eine veritable Band gehört dazu, the moment yes, die im Kern aus dem Musiker Raoul Nagel und der Tänzerin Emma Skyllbäck besteht, für die Produktion aber teilweise um das ganze Ensemble erweitert wird. Drei weitere Abende werden folgen, von denen jeder anders ablaufen wird. Die Bühne wird sich ebenso verändern wie die Zusammensetzung der Kompanie, die jeweils um Gastkünstler erweitert wird.
Bei ihrer Selbstbefragung schonen die Künstler weder sich noch ihr Publikum. Die Künstler entblössen sich – buchstäblich und im übertragenen Sinne. Das gilt besonders für die intensive Performance der beiden Gastkünstlerinnen Jasmin Wretemark und Jasmin Hauck, die eine Paarbeziehung zwischen Hingabe, Selbstaufgabe und -zerstörung bis an die Grenze des Erträglichen ausloten. Später am Abend kommt es zu einem zweiten, diesmal getanzten Zwiegespräch eines Paars. Exequiel Barreras und Hella Immler zeigen in einem geschmeidigen Pas de deux die wechselnden Rollen und Dynamiken einer Beziehung auf – bis zum bitteren Ende.
Ihre eigene Rolle als Schauspielerin hinterfragt Danielle Green in einer veritablen Künstlerbeschimpfung, die am Ende völlig aus dem Ruder läuft. Wer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bemerkt hat, dass dies alles andere als ein kuscheliger Tanzabend wird, merkt es spätestens dann, als der Raum abgedunkelt wird und die ganze Kompanie das Publikum direkt anspricht. Fragen prasseln auf die Zuschauer ein, es gibt kein Entkommen: Sind Sie einsam? Haben Sie Angst? Was fehlt in Ihrem Leben? Gibt es Dinge, die du bereust? Es ist einer der intensivsten Momente des Abends.
Nicht alle Episoden berühren gleichermassen. Während die einen in ihrer Dringlichkeit überzeugen, wirken die eingespielten Videooffenbarungen der Künstler ziemlich selbstverliebt. Andere Szenen bleiben rätselhaft: Zwar ist es beeindruckend, wie es gelingt, mit einfachsten Mitteln eine Plastikpuppe zum Leben zu erwecken, doch was genau es damit auf sich hat, erschliesst sich nicht.
Mutig und mit viel Lust zum Experiment hat die Tanzkompanie Rotes Velo eine spartenübergreifende Produktion realisiert, die trotz ihrer Heterogenität nie langweilig ist.
Weitere Kapitel am 31.5., 5.6. und 12.6., 20 Uhr.