Prager Frühling: «Warum müssen Sie die Toten ausgraben?»

Vor fünfzig Jahren haben Panzer den Aufbruch in der Tschechoslowakei niedergewalzt. Ein aktuelles Buch erzählt, wie es zum Eingreifen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten gekommen ist.

Rolf App
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Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei wurde vor 50 Jahren der Prager Frühling, der Versuch «einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen, gewaltsam niedergeschlagen. (Archivbild: KEYSTONE/AP Photo/Libor Hajsky/CTK)

Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei wurde vor 50 Jahren der Prager Frühling, der Versuch «einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen, gewaltsam niedergeschlagen. (Archivbild: KEYSTONE/AP Photo/Libor Hajsky/CTK)

Am zweiten Weihnachtstag 1967 bekommt der Politiker Josef Smrkovský Besuch von einem ihm flüchtig bekannten Journalisten. Der macht Anspielungen auf Smrkovskýs Haft in den Fünfzigerjahren und erklärt, es sei schade, dass er damals entlassen worden sei. Und er fügt die unverhohlene Drohung hinzu, ein Haftbefehl liege für ihn bereit. Es fehle auf ihm nur noch die Unterschrift.

Doch Smrkovský lässt sich nicht einschüchtern. An der nächsten Tagung des Zentralkomitees der tschechoslowakischen Kommunisten hält er eine Rede, die zum Wendepunkt im Tauziehen um die Macht wird. Der bisherige KP-Sekretär Antonín Novotný wird abgelöst und zu seinem Nachfolger der Slowake Alexander Dubček gewählt. Damit beginnt, was später der ­Prager Frühling heisst, ein Aufbruch, der vor fünfzig Jahren, in der Nacht auf den 21.August 1968, von Panzern der Sowjetunion und ihrer Verbündeten niedergewalzt worden ist.

Die Angst vor einer Ausbreitung ist immer da

Wie es zu diesem Aufbruch kommt – und wie zu seiner Niederschlagung, das erzählt der Historiker Martin Schulze Wessel mit Blick auf eine lange Vorgeschichte. Denn die Anspielung auf Smrkovskýs Haft fällt nicht zufällig: Es sind die Prozesse der Stalinzeit mit ihren etwa zwei Millionen Opfern, deren Aufarbeitung so sehr zum treibenden Element wird, dass der DDR-Herrscher Walter Ulbricht den tschechoslowakischen Botschafter entgeistern fragt: «Warum müssen Sie die Toten ausgraben?» Die Toten der stalinistischen Verfolgung klagen an – auch jene, die Folter und Gefängnis überlebt haben und in den Sechzigerjahren Rehabilitierung fordern. Ihr Auftreten macht klar: Die Prozesse haben jenes moralische Kapital zerstört, über das die Kommunistische Partei bis dahin verfügt hat.

Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling, Reclam, 323 S., Fr. 43.-

Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling, Reclam, 323 S., Fr. 43.-

Parallel zu dieser Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet eine kulturelle Öffnung statt, die sich vor allem auch in der Beschäftigung mit dem bisher verfemten Franz Kafka zeigt. Schliesslich lassen wirtschaft­liche Missstände und Konflikte zwischen den Landesteilen Veränderungen in Gang kommen, die sich als unumkehrbar erweisen. Als die Pressezensur abgeschafft wird, sind alle Schleusen offen.

Jetzt beginnt die Sowjetunion, Druck aufzubauen. Denn jetzt bekommen die Herrscher Polens, Ungarns, der DDR und Bulgariens Angst davor, der Prager Frühling könnte auch auf ihre Länder übergreifen. Sie fangen an, den Prager «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» als «Konterrevolution» zu diskreditieren. Er habe sich gefühlt wie der Reformator Jan Hus vor dem Konstanzer Konzil, sagt Dubček nach einem Gipfeltreffen.