Startseite
Kultur
Der britische Sänger Rag ’n’ Bone Man rückt von seinem Erfolgsrezept ab. Seine neue Musik ist reduziert und einfühlsam.
Der Mann ist eine Wand. Gegen zwei Meter gross, 120 Kilo schwer. Und genau so klang Rory Graham auch, als er vor fünf Jahren am Jazzfestival in Montreux unter dem Namen Rag ’n’ Bone Man die Bühne betrat. Der britische Hüne war noch völlig unbekannt, aber seine Erdbebenstimme schien das Auditorium zu erschüttern. Graham erinnert sich gut: «Montreux war der Start meines Erfolges in Europa, noch vor Grossbritannien», sagt er. Weder Album noch Single waren erschienen. Doch nach diesem Konzert wurde «Human», der Song, der ihm zu Weltruhm verhelfen sollte, zum ersten Mal am Radio gespielt.
Als fünf Tage nach dem Auftritt in Montreux «Human» veröffentlicht wurde, stürmte er die Charts und wurde zu einem Welthit. 3-fach Platin und Single of the Year in Grossbritannien, 5-fach Platin in der Schweiz und sogar 2-fach Platin in den USA. Dabei bestach Graham nicht nur mit seiner bombastischen Stimme, sondern auch mit einer Art Überwältigungspop. Rag ’n’ Bone Man spielte mit den ganz grossen Gefühlen, mit dem ganz grossen Sound.
Umso überraschender ist es, dass Rag ’n’ Bone Man mit dem Nachfolgealbum «Life By Misadventure» von seinem Erfolgsrezept mit dem Breitleinwandsound abweicht und sich sogar davon distanziert. «Human» war überproduziert, die Musik überfüllt. «Heute würde ich es nicht mehr so machen», sagt er dezidiert. Deshalb strebte er für sein Nachfolgealbum eine intime kammermusikalische Stimmung an. Er erklärt:
«Mein Ziel war, einen transparenten, klaren Sound zu schaffen. Akustisch, spärlich, zurückhaltend, frei von unnötigen Verzierungen.»
Stattdessen legt er Wert darauf, die Freude und Unmittelbarkeit einer Band zu vermitteln. Und auch er nimmt seine Stimme oft zurück. Der Hüne wirkt zurückhaltend und zeigt seine zerbrechliche Seite. So dauert es bis zum vierten Stück «Talking To Myself», bis Rag ’n’ Bone Man zum ersten Mal ausbricht und sein ganzes imposantes Stimmvolumen präsentiert.
Der Opener «Fireflies» war für Graham die Initialzündung. «Genau so sollte das Album klingen», sagt er. Die Band spielt dezent, lässt Raum, die Wirkung ist frappant: Denn Rag ’n’ Bone Man’s einzigartige Stimme kommt in diesem Umfeld noch besser zur Geltung.
Fraglich ist aber, ob seine Fans dem Richtungswechsel folgen werden. Jene, die ihn gerade wegen seines opulenten Sounds und seiner Donnerstimme lieben. «Es dürfte schwierig werden, den Erfolg zu bestätigen», sagt der 36-jährige Sänger entwaffnend ehrlich. Nicht zuletzt deshalb, weil sein neuer Sound ganz anders klingt als der aktuelle Hitparadensound. «Aber das ist kein Problem für mich», sagt er, «ich bin stolz auf das Album, denn ich habe genau das erreicht, was ich wollte.»
Graham schielt mit diesem Album nicht auf den kommerziellen Erfolg. «Meine Motivation ist es, live zu spielen und dabei in neue Territorien vorzudringen», sagt er. Zum Beispiel in den USA, in Kanada oder Australien. «Ich liebe es, zu touren und vor Leuten zu singen, die ich noch nicht kenne.»
Für die neue Ausrichtung von Rag ’n’ Bone Man steht Nashville, wo er die Songs fertiggeschrieben und in ein neues Soundgewand gekleidet hat. Der Wechsel über den Atlantik war für ihn notwendig. «In Grossbritannien verlor ich die Inspiration. Ich brauchte eine neue Umgebung, neue Musiker, um meine Vision musikalisch umzusetzen», sagt er.
Ein Coup ist das Duett mit Superstar Pink im Song «Anywhere Away From Here». «Wir trafen uns zuvor schon verschiedene Male und hatten vereinbart, einmal etwas zusammen zu machen. Ich liebe ihre Stimme», erzählt er. Graham hat es vor allem Pinks Nebenprojekt «You+Me» mit dem Folkmusiker Dallas Green angetan. Genau in der Art sollte das Duett sein. «Als wir den Song ‹Anywhere Away From Here› aufnahmen, wusste ich, dass das genau der richtige Song für ein Duett mit Pink ist», sagt er.
Einen anderen grossen Einfluss auf das Album hat der vor einem Jahr in Nashville verstorbene amerikanische Folk- und Countrysänger und Songschreiber John Prine. «Ich bin mit seiner Musik aufgewachsen», sagt Graham. «Schon mein Vater war ein grosser Fan. Ich liebe seine Art, Geschichten zu erzählen, und höre ihn sicher einmal in der Woche. Ich habe ihn vor einem Jahr an einer Show noch persönlich kennen gelernt. Eine Woche später ist er gestorben», erzählt Graham.
Glück in der Karriere, Pech in der Liebe: Rory Graham hat bewegte Jahre hinter sich. 2019 heiratete er und wurde Vater eines Sohnes. Doch die Ehe scheiterte. Rag ’n’ Bone Man betont aber, dass «Life By Misadventure» kein Trennungsalbum ist. Die Songs sind zwar emotional, seinen Liebesschmerz bündelt er in nur einem Song: dem berührenden «Talking To Myself».
Der Kummer scheint verarbeitet. In seinem Wohnort Brighton mache sich wie überall im Land Hoffnung breit. Mit der Stimmung im Land steigt bei Rag ’n’ Bone Man die Vorfreude auf Konzerte. «Meine Agenda füllt sich mit Terminen, und ich hoffe, dass der Spuk im Juni vorbei ist», sagt Graham. Zuerst in Grossbritannien, ab Dezember im Rest von Europa, auch in der Schweiz.
Wie wirkt sich der Brexit auf seine Konzerttätigkeit aus? «Ich gehe davon aus, dass es für renommierte Musiker wie mich keine grossen Probleme geben wird. Für britische Newcomer aber dürfte es hart werden. Sie müssen eine weitere Hürde überwinden.»
Rag ’n’ Bone Man: Life By Misadventure (Sony), erscheint am 7. Mai.