Mélanie Huber inszeniert am Theater St. Gallen Anton Tschechows letztes Stück «Der Kirschgarten» und lässt dabei die innere Unruhe der Figuren in wilde Pantomimik ausbrechen.
Ein guter Freund hat sich erinnert, dass Anton Tschechow zwei Orte besonders liebte: den Friedhof und den Zirkus. Beides trifft zusammen in jener Inszenierung, die Mélanie Huber am Freitagabend am Theater St. Gallen Tschechows letztem Stück, «Der Kirschgarten», angedeihen liess. Von einem Kirschgarten keine Spur, denn der ist von allem Anfang an dem Tod geweiht.
Stattdessen stellt Nora Johanna Gromer ein Haus mit lauter Pendeltüren auf die Bühne, aus denen, wie in einem Zirkus, die Figuren treten und oft auch purzeln. Da sind Anja (Pascale Pfeuti) und Warja (Anna Blumer), zwei junge Frauen voller unerfüllter Liebe. Da ist Leonid Andrejewitsch Gajew (Christian Hettkamp), Bruder der Hausherrin und ein Mann von höchst seltsamem Gebaren. Da ist Boris Borissowitsch Simjonow-Pischtschik (Matthias Albold), ein Gutsbesitzer mit Pferdegesicht – und mit Schulden wie fast jeder, der auf der Bühne steht.
Ausser Jermolai Alexejewitsch Lopachin (Tobias Graupner), der am Ende das Gut von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja (Diana Dengler) ersteigert und den Kirschgarten schnöde abholzen lässt. Lopachin braucht Platz, er will Sommerfrischler aus der Stadt unterbringen. Und die Ranjewskaja braucht Geld, denn sie hat es mit ihrem kleinen Hofstaat und einem Liebhaber in Paris mit beiden Händen aus dem Fenster geworfen. Das letzte Goldstück gibt sie einem Wanderer.
Melancholie beherrscht die Szene. Die alte Zeit, sie ist unwiederbringlich verloren, und niemand weiss, ob er in der neuen Zeit Fuss fassen kann.
Ein Gefühl der Lebensuntüchtigkeit erfüllt die Menschen und jene Gespräche, die sie, wartend auf die Versteigerung, miteinander und auch gegeneinander führen. Jeder und jede ist unglücklich, aber jede und jeder ist es auf eigene Weise. Und um das zu übertönen, wird auch gern getanzt und gesungen. Sie führen einen Zirkus auf. Kay Kysela schlägt als Gouvernante das Rad und überrascht mit Kartenkunststücken.
Manchmal wird es ganz still, geisterhaft wirken die Darsteller dann in Andreas Enzlers hellem Licht, während hinten Martin von Allmen ein verstimmtes Klavier spielt und der schwerhörige Diener Firs (Bruno Riedl) gravitätisch über die Bühne schleicht. Oft aber überrascht Mélanie Huber die Zuschauer mit wilder Pantomimik. Auf schwer erträgliche Weise bleibt alles stehen, doch die Figuren suchen dem Stillstand zu entfliehen mit einem geradezu exzessiven Bewegungsdrang.
Unsere Zeit, auch sie erfüllt von lauter Veränderung, wird dafür viel Verständnis haben, auch wenn es nicht mehr um lieb gewordene Kirschgärten geht.
Wenn Tschechows Stücke Kriminalfälle wären, so kannte man den Mörder oder die Mörderin schon, stellt der Theaterkritiker Rüdiger Schaper fest: «Es ist die Zeit.» Tschechow aber nehme die Menschen nicht auseinander, er sehe ihnen vielmehr ihr vages, verschwindendes Wesen, ihre Leere nach. «Und deshalb ist er uns so nah. Er lässt jedem seine Freiheit und Natur, eben sein Geheimstes.»