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Kultur
Wie Susanna Müller Ende des 19. Jahrhunderts auf die Gesundheitsmisere reagiert hat, ist ein spannendes Stück Ostschweizer Sozialgeschichte. Zwei Museen, in Herisau und Lichtensteig, erzählen sie mit Originalobjekten nach.
Ende des 19. Jahrhunderts war gesunde Ernährung ein grosses Problem. Die Frauen der ärmeren Schichten waren berufstätig, vielbeschäftigt, rieben sich auf zwischen Erwerbsarbeit, Heimarbeit, Hausarbeit, Kindererziehung, und was sonst noch so alles anfiel. Doch dann kam Susanna Müller, die Toggenburger Bauerntocher aus armen Verhältnissen, die Hauswirtschafterin, die Bestsellerautorin. Susanna Müller war eine ausserordentliche Frau – und es verwundert nicht, dass gleich zwei Ausstellungen sich ihrer annehmen.
Die Museen in Herisau und Lichtensteig widmen ihre aktuelle Sonderausstellung dem Thema Ernährung und den Anfängen der Kochbuchliteratur. Susanna Müller wirkte da als Pionierin. Anfang des 20. Jahrhunderts reift allmählich die Erkenntnis, dass gute Ernährung etwas mit Gesundheit zu tun hat. «Es hat in unserem Kanton gegen 400 schlecht genährte Volksschulkinder, deren Mittagessen meist nur aus Kaffee und Brot besteht», heisst es 1905 in einem Referat über die Speisung und Bekleidung bedürftiger Schulkinder in Appenzell Ausserrhoden. Von Volksernährung, Volksküchen und Volkshochschulen ist die Rede, damit eine billigere und gesündere Ernährungsweise möglich wird.
Susanna Müller hatte sich schon zuvor des Problems angenommen. Sie erfand den Selbstkocher, und liess ihn sich 1885 patentieren. Einfaches Prinzip, aber wirkungsvoll: Ein isolierter Behälter, in den die Töpfe mit dem kurz aufgekochten Essen hineingestellt werden, um langsam vor sich hin zu garen. Eine Art Niedertemperaturgaren, wie es heute wieder in Mode gekommen ist.
Ein Rezeptbüchlein gab Anweisung: Kartoffeln in Schale: 10 Minuten vorkochen, 1–3 Stunden Dunstzeit im Garer. Sauerkraut: 25 Minuten vorkochen, 4 Stunden nachgaren. Rüben aller Art: 25 Minuten vorkochen, 3–4 Stunden nachgaren. Auch Roastbeef, Schweinsbraten oder Rauchwürste, Reis, Nudeln, Pudding, Kastanien oder Obst, alles konnte in «Susanna Müllers Original-Selbstkocher» zubereitet werden. So sparte die Hausfrau nicht nur Zeit, sondern auch Energie, und das gegarte Essen behielt die wertvollen Vitamine.
Der Selbstkocher wurde ein Verkaufsschlager – allerdings übertrumpfte er nicht Susanna Müllers Longseller, «Das fleissige Hausmütterchen». Dieses Buch brachte sie 1860 heraus, es war eines der ersten Kochbücher, wurde 200000-mal verkauft, in zig Auflagen gedruckt und immer wieder erweitert, bis in die 1950er- Jahre, lange nach Müllers Tod. Bis zum Zweiten Weltkrieg ist «Das fleissige Hausmütterchen» der Haushaltsratgeber schlechthin. «Das Buch bot Hilfe zur Selbsthilfe», sagt Thomas Fuchs, Kurator des Museums Herisau. Und es verhalf Susanna Müller zu Unabhängigkeit.
Dass Susanna Müller es überhaupt schrieb, ist schon erstaunlich, sagt Christelle Wick, Kuratorin des Toggenburger Museums Lichtensteig. Susanna wächst als Tochter einer armen Bauernfamilie auf, mit vier muss sie beim Garn-spulen helfen, mit sieben am verhassten Webstuhl sitzen. Während vier oder fünf Jahren besucht sie die Schule, und auch das nur im Winter. Sie ist wissbegierig, die Mutter besorgt ihr Lesestoff über Nahrungsmittel, Gesundheit oder Krankenpflege.
Als die Mutter stirbt, muss Susanna deren Rolle im Haushalt übernehmen. Doch eine Bekannte unterrichtet sie in Handarbeit, bald kann Susanna selber unterrichten und wird nach Wattwil berufen. Und sie schreibt ihr Buch. Für damalige Zeit ungewöhnlich: In Briefform, ein junges Mädchen bittet ihre Tante um Rat in allerlei Haushaltsdingen und Lebensfragen. Susanna Müller verfasst Fragen und Ratschläge, reichert das Buch an mit Rezepten, Gesundheitstipps, sogar übergrosse Schnittmusterbögen sind eingefaltet. Wie sich Susanna Müller als alleinstehende Frau in der patriarchalen Schweiz als Selfmade-Unternehmerin behaupten konnte, habe sie enorm beeindruckt, sagt Christelle Wick.
In den 1870er-Jahren galt Hausfrau als Beruf, aber es brauchte auch eine Ausbildung dafür. Eine erste bietet Susanna Müller mit ihrem Ratgeber. Andere folgen kurz darauf. «Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ist in ganz Europa die Aufbruchphase der Kochbücher», sagt Kurator Fuchs. Seine Ausstellung beleuchtet auch die Rolle des «Heinrichsbader Kochbuchs», das 1896 erschien und bis in die 1930er-Jahre gedruckt wurde. Auch ein Bestseller.
Die Gesundheits- und Hygienebewegung nahm nach 1850 an Tempo auf, Kochbücher entstanden als Teil des Erziehungs- und Fortschrittsprogramms. Die Lebensbedingungen waren für viele schlecht: Man arbeitete in der Fabrik oder in Heimweberei 11 bis 12 Stunden pro Tag, auch samstags. «Wer 65 bis 70 Stunden die Woche am Schaffen ist, hat keine Zeit zum Kochen», sagt Fuchs. Als ab 1880 die Rekruten im Gesundheitstest untersucht werden, fällt auf: Die Ausserrhoder Rekruten weisen im schweizweiten Vergleich die höchste Dienstuntauglichkeit auf.
Als erste nehmen sich private Initiativen dieser Problematik an, und fordern Kochunterricht flächendeckend für alle Mädchen. In der Folge entsteht in Herisau im Kurhaus Heinrichsbad ein Angebot: vier Monate Kochkurs inklusive Internat. Dieser war teuer, eher für Töchter betuchter Familien gedacht. Das Kochbuch, das die Leiterin der Kochkurse bald veröffentlichte, versammelte unzählige Rezepte der gehobenen gutbürgerlichen Küche. Bald folgten Kochkurse für Frauen aus den unteren Schichten samt Publikationen, wie «Volkarts Buch der einfachen Hausfrau» eines Herisauers Reallehrers.
Auch auf politischer Ebene tat sich etwas: Hauswirtschaft wurde zum Schulfach. Das Buch lebt auch nach Susanna Müllers Tod weiter. Zwei Hauswirtschafterinnen fungieren bis Anfang der 1950er-Jahre als Herausgeberinnen. Und «Das fleissige Hausmütterchen» findet sich bis heute in vielen Schweizer Haushalten.
«Fleissige Hausmütterchen und das Heinrichsbader Kochbuch», Museum Herisau. Mi-So, 13 bis 17 Uhr, bis 30.12. www.museumherisau.ch «Kunst und Küche, Babeli Giezendanner und Susanna Müller», Toggenburger Museum Lichtensteig. Sa und So, 13 bis 17 Uhr, bis 28.10. www.toggenburgermuseum.ch