Grausam, unbarmherzig, brutal: Was Kinder und Jugendliche als administrativ Versorgte erleiden mussten, erzählt das Theater St. Gallen in «Verminte Seelen». Ein beklemmendes Dokumentartheater über finsterste Schweizer Geschichte.
Der Bub verkriecht sich hinter den aufgestellten Bäckerkisten, die den Beichtstuhl markieren. Blass blickt er durch das Plastikgitter. Er hat den Pfau des Paters getötet, doch darum geht es dem Pater nicht. Er will wissen, was der Bub gestern unter der Bettdecke gemacht hat. «Hast Du dich angefasst?» «Nein.» «Weisst du, was das heisst?» «Nein.» «Komm, ich zeig’s dir.» Der Bub steht auf, der Pater tätschelt ihn im Nacken, und sie gehen gemeinsam hinaus.
Ein anderer Bub sitzt benommen auf einem metallenen Tisch. Carol wurde nach einem Suizidversuch in die psychiatrische Klinik Münsterlingen eingewiesen, er ist schon länger dort. Christian erzählt Carol, er sei ein Hase, der Doktor übe neue Tricks mit ihm. Der Doktor schimpft, weil Christians Wunde immer noch offen sei. Der Bub sagt teilnahmslos, er habe gegen das Eisenbett getreten, damit er nicht mehr mit dem Pater ins Gesangszimmer muss. Aber der lasse ihn jetzt halt ins Zimmer tragen. Der Arzt wirft dem Bub einfach noch drei Pillen ein – drei Tischtennisbälle lässt er in Christians T-Shirt-Ausschnitt fallen, zu den vielen anderen, die da schon klackern.
Die Grausamkeit muss man nicht zeigen. Man muss sie nicht erklären. Sie erzählt sich auch so. Es ist ein grausames Stück Dokumentartheater, das das Theater St. Gallen am Dienstag in der Lokremise zur Uraufführung brachte. In grosser Klarheit werden die unfassbaren Leidensgeschichten von vier Kindern und Jugendlichen erzählt.
Die vier, deren Akten, Aussagen, Protokolle und Interviews die Grundlage des Stücks «Verminte Seelen» sind, sie wurden jahrelang administrativ versorgt. Was sich hinter dem bürokratisch nüchternen Wortungetüm verbirgt, macht «Verminte Seelen» unmissverständlich klar: menschenunwürdige Brutalität.
Regisseurin Barbara-David Brüesch und Dramaturgin Anja Horst haben eine beklemmenden Theaterabend erschaffen. Kein Satz, der an diesem Abend auf der Bühne fällt, sei erdichtet, sagt Anja Horst.
Die theatrale Umsetzung der starken Vorlage ist bedrückend einfach, und dadurch brutal. Brüesch und ihr Ensemble erzählen in rund 40 Episoden, was Uschi, Carol, Mario und Christian erleben mussten. Vergewaltigung, Missbrauch, himmelschreiende Einsamkeit, Gewalt, Selbstmord, Medikamentenversuche, das Versagen von Elternhäusern, Institutionen und Justiz – nichts lassen die Theatermacher aus. Nüchtern, ohne Sozialkitsch, Drama oder historisierenden Naturalismus, und dadurch umso eindringlicher.
In Rückblenden fächern Brüesch und ihre drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler die Geschehnisse auf. Uschi (Birgit Bücker), Carol (Diana Dengler) und Mario (Fabian Müller) wenden sich ans Publikum, rutschen unvermittelt aus dem Erzählen in eine Szene hinein und wieder zurück, die Erzählebenen wechseln rasch. Bruno Riedl, Pascale Pfeuti und Marcus Schäfer wechseln die Rollen, sind Arzt, Eltern, Anstaltsdirektor, Pater, Anwältin.
Die Ausstattung unterstreicht die dokumentarische Erzählweise: ein offener Raum, viele Mikrofone, Paletten formen einen Steg. Auf der hölzernen Rückwand kleben Aktenblätter, Notizen, Fotos, wie Dartpfeile werden die Orte der Heime und Anstalten in eine Schweizkarte hineingeschossen. Weisse Bäckerkisten werden zum Aktensammler, Beichtstuhl oder Monsterpater.
Die Schweiz, Musterschüler in Europa, allseits bewunderte und beneidete direkte Demokratie, die Schweiz ein Unrechtsstaat? Ja. Es ist noch nicht lange her, keine 40 Jahre, da wurden hier Zigtausende Menschen weggesperrt. Weil sie anders waren, nicht in die Norm passten, oder einfach etwas Anderes wollten vom Leben. Babys, Kinder, Jugendliche, Erwachsene. In Heime, Arbeitslager, Psychiatrien, Gefängnisse.
Genaue Zahlen gibt es nicht, Forscher schätzen, dass es von 1930 bis 1981 zu 38'000 bis 200'000 administrativen Einweisungen kam. Die grosse Spannweite zwischen den Zahlen weise auf die schwierige Quellenlage hin.
Um dieses finstere Kapitel aufzuarbeiten, hat der Bund 2014 eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt. Ihre insgesamt zehn Bände umfassende Forschungsarbeit soll bis September publiziert werden. Auch zig kantonale Projekte, universitäre Arbeiten oder Institutionen erforschen das. Trotzdem: Wirklich öffentlich diskutiert wurde kaum. Nur wenige wissen wirklich etwas darüber. Und die, die etwas wissen, weil sie es erleiden mussten, sie konnten jahrzehntelang nicht darüber sprechen. «Wer hätte mir denn geglaubt?», sagt Carol nach der Premiere.
Im Theater St. Gallen wird ihr, wird Uschi, Mario und all den anderen nun eine Stimme gegeben. Drei der Betroffenen, deren Martyrium in zwei Stunden erzählt wird, haben in der Inszenierung das letzte Wort. Es schaudert einen, wenn ihre Stimmen vom Band ertönen, Raum und Herzen ausfüllend. Carol warnt, wie überall in Europa rechte Kräfte erstarken. «Wenn die wieder aufkommen, wird diese Mentalität wieder als normal angeschaut.» Man müsse heute schauen, dass so etwas nicht mehr passiert.
Bittere, ahnungsvolle Worte. 1981 wurde die administrative Versorgung in der Schweiz aufgehoben. Doch vorbei ist die Geschichte nicht.
«Verminte Seelen», Theater St. Gallen Lokremise, bis 20.Juni 2019, Wiederaufnahme im November