Annie Ernaux ist die französische Königin der Autobiografie. In «Erinnerung eines Mädchens» wird ein früher sexueller Missbrauch zur brillanten Studie über Erniedrigung und die bigotten 1950er-Jahre.
Als Annie Ernaux 1959 den feministischen Weckruf «Das andere Geschlecht» von Simone de Beauvoir liest, schämt sie sich. Im Jahr zuvor war sie als 18-Jährige «ein Sexobjekt» und gleichzeitig in ihren groben, gleichgültigen «Geliebten» verliebt. Er hatte sich zwei Nächte lang mit roher Lust an ihr befriedigt. Sie ist ihm komplett egal. Annie hingegen, die hübsche, naive, brillante Schülerin, hofft verzweifelt auf eine Wiederbegegnung mit ihrem Peiniger.
Von den Kolleginnen wird sie als «plemplem» ausgelacht und als «kleine Nutte» bezeichnet. Ess- und Brechsucht sind die Folge – und eine jahrelange schmerzhafte Ablösung. Man möchte sagen: Masochismus. Das wäre naheliegend, denn dass sie sexuell benutzt worden war, habe sie damals stolz gemacht, schreibt Annie Ernaux heute, fast 60 Jahre später, in «Erinnerung eines Mädchens». Und doch: Sie weigert sich, ihre Erfahrung als «Vergewaltigung» zu bezeichnen. Für sie ist die Erfahrung so facettenreich, dass sie sich auch einer psychologischen Schubladisierung entzieht.
Annie Ernaux’ Literatur ist seit je geprägt von einer subtilen, stets reflektierenden, fragenden Archäologie der Gefühle und Mentalitäten. Im 2017 auf deutsch erschienenen Buch «Die Jahre» schrieb sie ein Generationen- und Gesellschaftsporträt aus vielen Kurztexten: Algerienkrise, Katholizismus, Prüderie und Emanzipation, Schilderung der sozialen Milieus mit ihren Regeln und ihrer Sprache, 68er-Bewegung und Verhütung, Scheidung, späte Liebe, Krebs. Mit einem unverblümten Stil und scharfem Verstand. Schlicht meisterhaft. Inspirieren liess sie sich dabei von Fotos, Objekten, Erinnerungen. In Frankreich war das Buch ein Bestseller.
In «Erinnerung eines Mädchens» gräbt Annie Ernaux an einem Ort der Initiation und Emanzipation tiefer. Stets fragend, die junge Annie als «sie» in der dritten Person auf Distanz haltend und damit den nüchternen, präzisen Erzählstil bewahrend. Ernaux schreibt, sie müsse die lange verschwiegene Episode erzählen, sonst werde «das, was dieses Mädchen erlebt hat, unerklärt bleiben, umsonst gelebt». Das Vergessen gelang nie. Bei aller späteren Emanzipation und Neuerfindung dank Studium, der 68er-Bewegung und Simone de Beauvoir ist sie nie über die demütigende Erfahrung hinweggekommen. Immer stand «58» in den Notizen zu neuen Büchern, nie gelang die Beschreibung der «unbeschreiblichen Leerstelle.» Ernaux reflektiert ihr Erzählen, macht ihre Recherchen transparent. Hier schwingt Pathos mit, das aber Überwindung kostet, denn: «Das grosse Gedächtnis der Scham ist viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere.»
Es war im Sommerlager 1958: Die überbehütete 18-Jährige aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, die in die katholische Mädchenschule geht, möchte zur Lagerclique dazugehören, verzehrt sich romantisch danach, endlich mit einem Jungen zu schlafen. Davon hat sie durch ihre geliebte Literatur schon eine vage Vorstellung. Bereits an der ersten Party packt sich der Grobian, den sie nur H nennt, die naive Annie, die sich nicht wehrt: In der «Erwartung einer heiligen Erfahrung» und der Angst, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Die Jungfräulichkeit wird sie zwar behalten, muss aber den Grobian sexuell bedienen.
Um den Stolz des jungen Mädchens zu verstehen, ihre Scham, ihr Begehren, ihre Unterwerfung und spätere Emanzipation, erforscht Ernaux ihre Familie und die Gesellschaft der 1950er-Jahre. Und entdeckt unter anderem, dass Prüderie und sexueller Übergriff zusammengehören, oder dass Sprachgebrauch Bewusstseinssteuerung ist. Sich «hinzugeben» war beim Sex für Frauen sowohl Begriff wie Gebot. Das junge Mädchen nimmt es unkritisch als zeitbedingt gegeben hin: «Sie unterwirft sich nicht ihm, sondern einem universellen Gesetz, dem Gesetz der wilden Männlichkeit.» Man würde gerne erfahren, was der Grobian H zu erzählen hätte. War auch er gefangen in einer sozialen Rolle? Annie Ernaux hat ihn Jahrzehnte später gegoogelt und auf einem Foto als stolzes Oberhaupt einer Grossfamilie entdeckt.
Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens. Suhrkamp, 163 S., Fr. 30.-