Einmal im Jahr spendet Emily für den Kirchenbasar. Sie entrümpelt den Keller und die Garage und freut sich «wie ein siegreicher General über den so gewonnenen Platz».
Einmal im Jahr spendet Emily für den Kirchenbasar. Sie entrümpelt den Keller und die Garage und freut sich «wie ein siegreicher General über den so gewonnenen Platz». Je älter sie wird, umso leichter fällt es ihr, sich von den Symbolen vergangenen Lebens zu verabschieden. Sie hat es aufgegeben, Dinge aufzubewahren, nur weil sie die Hoffnung hegt, «jemand würde sie genauso lieben wie sie».
So trennt sie sich denn diesmal von jenem Gepäck, das sie, zusammen mit ihrem verstorbenen Mann, für eine Englandreise gekauft hatte. Sie schaut einen der Koffer noch einmal an und sieht Henry in seinem Trenchcoat und ohne Hut in den Midlands stehen, das dünne Haar vom Wind zerzaust. «Tut mir leid», sagt sie und wischt die Seiten ab.
Emily ist alt geworden. Alt und ein wenig einsam. «Emily, allein», hat Stewart O'Nan seinen schlichten Bericht über einen Lebensabend überschrieben. Tag für Tag folgt er seiner Protagonistin, die mit ihrem Hund Rufus seit fast sechzig Jahren in einem alten Haus mit Garten in Pittsburgh lebt und deren wichtigste Abwechslung darin liegt, mit ihrer Schwägerin Arlene auszugehen. Sie besuchen Konzerte und Ausstellungen, einmal in der Woche plündern sie im «Eat'n Park» das Frühstücksbuffet. Dort bricht Arlene auch zusammen, und obwohl sie sich rasch erholt, reagiert Emily verstört. Noch ein Pfeiler ihres Lebens, der bedrohlich zu wackeln scheint.
Der Gedanke ans Sterben ist allgegenwärtig in diesem Buch. Emily bereitet sich auf ihren eigenen Tod vor. Nicht, dass sie krank wäre. Aber sie spürt das Verrinnen ihrer Zeit. Sie verfasst ihr Testament und bestimmt, wie die Trauerfeier ablaufen soll. Immer wieder stirbt jemand, den sie gut kennt. Als sie, beim Tod einer nahen Freundin, das Präludium von Buxtehude hört, das sie sich selber wünscht, gibt ihr das einen Stich.
Doch dann kommt ihr der Gedanke: «Ihr Tod würde nichts Besonderes sein, warum auch? Und ihre Mutter hatte recht. Vor Gott waren sie alle gleich.»
Emily lebt im Gefühl, dass ihr das Leben langsam entgleitet. «Bilder quälten sie wie eine Migräne, machten sie hilflos und unzufrieden, als wäre ihr eigenes Leben und das der Menschen, die sie geliebt hatte, im Sande verlaufen, nur weil jene Zeit vorbei war, weil sie sogar aus ihrem Gedächtnis schwand und von dieser tristen Gegenwart ersetzt wurde.»
Die triste Gegenwart: Das sind auch die komplizierten Beziehungen zu ihren Kindern und Enkelkindern. Es sind, auf beiden Seiten, Wunden, die, obwohl längst vernarbt, noch immer gelegentlich schmerzen. Es ist die Einsicht, dass sich so vieles nicht in Harmonie lösen lässt.
Stewart O'Nan entfaltet in «Emily, allein» seine ganze Meisterschaft. Nicht zum erstenmal. Zuletzt beschrieb er in «Alle, alle lieben dich» eine Familie, deren Tochter nach einem Bad im Fluss spurlos verschwindet. Und die sich beinahe aufgibt in der Suche nach ihr. Schon damals wählte er eine ganz einfache, gradlinige Erzählform, die wie beiläufig Erlebnisse, Erinnerungen, Gefühle miteinander verknüpft, und so ein grosses, stimmiges und irgendwie auch unvergessliches Ganzes geschaffen.
Auch jetzt, mit Emily, gelingt ihm ein Kunststück an Schlichtheit.
Henry zum Beispiel, Emilys vor sieben Jahre verstorbener Mann, ist ganz unauffällig präsent. Kleinigkeiten erinnern an ihn. Noch immer trauert sie, aber auf eine sehr stille Weise. Das Leben, spürt sie, wird immer weniger.
Ihre Ziele werden bescheidener. Ostern, der Garten, die Sommerfrische: Mehr ist es nicht mehr. Melancholie überfällt sie gelegentlich, aber Emily bewahrt sich auch einen unsentimentalen Blick aufs Leben. Sie weiss, irgendwann wird es zu Ende sein, und hofft, doch immerhin noch den Winter überleben zu können.
Tatsächlich schafft sie es, zusammen mit Arlene und mit dem Hund, auch er alt und eigensinnig. Wie Emily selbst, der man noch ein langes Leben wünscht.
Rolf App