Die Vielfalt an Aussenseiterkünstlern in der Ostschweiz ist gross. Josef und Mina John haben dies früh erkannt und eine einzigartige Sammlung aufgebaut. Das Museum im Lagerhaus konnte sie erwerben und zeigt sie nun erstmals.
ST. GALLEN. Nur ein Jahr lang darf Hedi Zuber zur Schule gehen. «Es lohnt sich nicht, einen Krüppel zu unterrichten», beschied ihr der Lehrer. Das Mädchen litt an Rachitis, hatte einen Buckel und krumme Beine. Später wird die Wilerin Näherin in einer Wäschefabrik. Erst mit 65 Jahren beginnt sie zu malen – und offenbart ein grosses Talent. Malend wächst sie über sich hinaus, im wahrsten Sinne des Wortes: Die kleinwüchsige Frau malt sich auf dem St. Galler Klosterplatz ebenso gross wie die Türme der Kathedrale.
Das 1988 entstandene Selbstporträt ist eines von über tausend Werken der Sammlung Mina und Josef John, die das Museum im Lagerhaus vor einem Jahr für insgesamt 1,3 Millionen Franken ankaufen konnte dank Beiträgen des Lotteriefonds des Kantons St. Gallen, der Stadt St. Gallen, des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Stiftungen und einer Firma aus der Region. Nun, nachdem die Sammlung in den vergangenen Monaten aufgearbeitet, inventarisiert und digitalisiert worden ist, zeigt das Museum im Lagerhaus erstmals die neu erworbenen Schätze im Überblick.
Dass die Sammlung John sich nun im Museum im Lagerhaus befindet, ist folgerichtig, aber alles andere als selbstverständlich. 1988 gehörten Josef und Mina John zu den Mitinitianten des Museums im Lagerhaus, ihre Sammlung gab den Anstoss für die Gründung des Museums und der Stiftung für schweizerische naive Kunst und Art brut.
Was Josef und Mina John vor bald 60 Jahren zu sammeln begannen, war die Kunst von Aussenseitern der Gesellschaft. Damals interessierte sich niemand für diese «ungelernten Meister», wie Josef John sie einmal nannte. Viele der in der Sammlung vertretenen Künstlerinnen und Künstler hat Josef John entdeckt; ohne ihn hätte niemand von ihrem Schaffen erfahren und ihre Werke wären wohl zerstört oder vergessen: zum Beispiel die grossartigen Flugobjekte Ernst Kummers oder die Bilder Sophie Breitenmosers, der einzigen Frau unter den bäuerlich-naiven Malern. Heute hingegen erfahren ihre ausdrucksstarken Werke dank der Pionierarbeit des Appenzeller Ehepaars und Gleichgesinnter Anerkennung.
Wie sehr das Museum im Lagerhaus durch den Ankauf der Sammlung John eine Aufwertung erfährt, zeigt sich exemplarisch am Beispiel des gehörlosen Alfred Leuzinger, der im Bürgerheim Wattwil lebte und den Josef John in den 1960er-Jahren per Zufall kennenlernte. Heute gilt Leuzinger als einer der bedeutendsten Art-brut-Künstler der Schweiz. Er zeichnete mit Vorliebe alles, was mit seiner geliebten Eisenbahn zusammenhing, und häufig in Serie. Die fertigen Zeichnungen legte er in seinen Schrank, der vom Pflegepersonal regelmässig aufgeräumt wurde, sprich – die Werke Leuzingers wanderten in den Abfall. Deshalb sind heute nur rund 100 Zeichnungen erhalten, 32 davon befinden sich im Museum im Lagerhaus, das seine Leuzinger-Sammlung dank der Sammlung John fast verdoppeln konnte.
Der Ankauf von Kunstwerken von Aussenseitern und Naiven mit staatlichen Geldern ist ein grosses Zeichen der Wertschätzung. Damit rückt man sie ein Stück weit weg vom Rande und hin zur Mitte der Gesellschaft. Jedes Mal, wenn Hedi Zuber im Museum im Lagerhaus zu Besuch war, glühte sie vor Begeisterung, wenn sie dort ihre eigenen Werke entdeckte, und jubelte vor jedem ihrer Bilder: «Auch dieses ist von mir!»
Bis 18.10.; 3.5., 11 Uhr: Mina und Josef John zeigen die Sammlung.