Seine Weltkarriere startet mit einer zufälligen Begegnung in St.Gallen. Und für Martin Schläpfer geht es auch mit 58 Jahren noch weiter bergauf: Der Choreograf wird 2020 Leiter des Wiener Staatsballetts. Doch ein Traum wartet noch auf seine Erfüllung.
Martin Schläpfer führt ein Leben auf der Überholspur. Vor wenigen Tagen kürte ihn die Kritikerumfrage des Magazins «Theater der Zeit» zur erfolgreichsten Person der Sparte Tanz im deutschsprachigen Raum. Im Juni wurde bekannt, dass er ab 2020 das Wiener Staatsballett leitet, eine der grössten Compagnien weltweit.
Mit weit über 60 Choreografien («das kann ich gar nicht sagen, wie viele das sind») feiert er einen Erfolg nach dem anderen. Zuletzt entrümpelte er mit seiner Compagnie in Düsseldorf und Duisburg «Schwanensee», löste an der Premiere im Juni minutenlange Jubelstürme aus, nur einen Monat später zeichneten ZDF und Arte diesen Abend fürs Fernsehen auf.
Und Schläpfer? Sagt einfach: «Ich hatte viel Glück.»
Das Ende seiner 10. Düsseldorfer Spielzeit ist nahe, doch Schläpfer strotzt vor Tatendrang. Beim «Ballett am Rhein», das er seit 2009 leitet, hatte er seinen Chefposten vor einiger Zeit abgegeben, er ist nur mehr künstlerischer Direktor und Chefchoreograf, ab 2019 dann «nur» noch Hauschoreograf mit einer Uraufführung pro Spielzeit, er wollte kürzertreten. Doch daraus wird nun nichts. Die Herausforderung Wien steht an.
«Ja, Wien ist ein grosser Schritt», sagt Schläpfer, und es klingt leicht wehmütig. Ob er sich freut? «Na klar, aber ich freue mich, wie sich ein Schläpfer freut», sagt er. Er sieht die grosse Aufgabe vor sich, spürt auch Angst, «Kreationsangst».
Doch er will es nochmals wissen. Es reizt ihn, zu versuchen, das Wiener Staatsballett ganz nach oben zu bringen. Mit ihm übernimmt nun ein Choreograf die Leitung der grossen Compagnie, die zwei Häuser bespielt, die Staatsoper und die Volksoper. Er wird Chef von 109 Tänzerinnen und Tänzern, 24 davon in der Volksoper.
Eigentlich hatte der 58-Jährige eine andere Planung im Sinn, er wollte in naher Zukunft vermehrt frei arbeiten, Zeit im Tessin verbringen. Doch dann kam das Angebot von Bogdan Roščić, ab 2020 Intendant der Wiener Staatsoper. Schläpfer lehnte zuerst ab.
Nach drei Monaten sagte er doch zu. Er schätzt Intendant Roščić. Er mag Wien, es sei die «Stadt der Kunst, das spürt man schon, wenn man am Flughafen landet». Und er mag das Haus, das allein durch seine schiere Grösse beeindruckt: «Schon wenn du auf der leeren Bühne stehst, das ist so toll.»
Doch Schläpfer hat auch Respekt vor dem Opernhaus und dessen «grossartiger Historie». Er werde das klassische Repertoire pflegen und zugleich versuchen, neue Impulse zu setzen.
Dass Martin Schläpfer überhaupt Tänzer und schliesslich einer der profiliertesten Choreografen der Gegenwart wurde, fusst auf einem wahnsinnigen Zufall. Schläpfer wächst in St.Gallen auf, die Familie besucht oft die Grosseltern in Rehetobel.
«Das Appenzellerland ist bis heute ein Sehnsuchtsort für mich, ich mag es sehr, ohne es zu idealisieren.»
In St.Gallen lernt der junge Martin Eiskunstlauf, bei einem Schaulaufen wird der 15-Jährige von seiner künftigen Ballettlehrerin Marianne Fuchs entdeckt. Die unorthodoxe Lehre in St.Gallen war ein wichtiger Beginn seiner Karriere, sagt er. Nach nur eineinhalb Jahren Ballettunterricht gewinnt er beim Prix de Lausanne ein Stipendium für die Royal Ballet School in London.
Schläpfer avanciert zum Solotänzer in Basel und im kanadischen Winnipeg, gründet eine Ballettschule, und wird 1994 als Direktor ans Berner Ballett berufen. Zwischendurch hadert er und will alles hinschmeissen. Doch er arbeitet sich aus den Zweifeln heraus, mehr noch: Er verhilft dem Ballett Mainz, das er von 1999 bis 2009 leitet, zum Durchbruch.
Auch das Ballett am Rhein feiert unter Schläpfer seine grössten Erfolge. Nach Bekanntwerden von Schläpfers Berufung nach Wien fürchtet man dort jetzt einen Bedeutungsverlust. Durch Schläpfer wurde das Ballett am Rhein zu einer der führenden Compagnien in Europa.
Darauf hoffen sie nun in Wien. Und Martin Schläpfer freut sich auf die grosse Aufgabe. Noch sei es zu früh, um über konkrete Pläne zu sprechen. Er müsse erst den «Bauch des Schiffes erkunden».
Doch es ist klar, dass sich das Wiener Staatsballett mit Schläpfer verändern wird. «Sanft, aber confirm» arbeite er, sagt er in seinem Sprachgemisch, in das sich immer wieder englische Wörter einschleichen. Es gehe darum, das zu tun, woran man glaube, egal, wo man sei, sagt er.
Auch wenn es für Martin Schläpfer karrieretechnisch nicht besser laufen könnte, ein Traum hat sich für ihn noch nicht erfüllt. Noch nie wurde ein Stück von ihm in seiner alten Heimat gezeigt. «Wahrscheinlich sind wir für ein Gastspiel in St.Gallen zu teuer», sagt er.
Den Sommer jetzt wird er im Tessin verbringen, im hintersten Vallemaggia, und er will nach Wien reisen, die Stadt spüren, ganz ohne offizielle Treffen. «Das war’s dann auch schon mit meinen Ferien, I’m not exhausted at all, ich bin nicht müde», sagt er. Wien kann kommen.