In seiner aktuellen Kolumne schreibt unser Autor Pedro Lenz über ein Wort aus der Jugendsprache, das in verschiedensten Zusammenhängen gebraucht wird.
Als Kind war ich tief beeindruckt vom Rollgabelschlüssel, der bei uns zu Hause am Werkzeugbrett hing und den wir «Engländer» nannten. Mir imponierte die Anpassungsfähigkeit dieses Werkzeugs. Ein einziger Rollgabelschlüssel konnte gut und gern ein halbes Dutzend Schraubenschlüssel ersetzen.
Fragte ich damals meinen Vater, warum es überhaupt noch Schraubenschlüssel unterschiedlicher Grösse gebe, wo doch ein einziger Engländer für alle Muttern genügen würde, argumentierte mein Vater mit der Genauigkeit. Zwar seien die Backen des Engländers tatsächlich auf jede Muttergrösse einstellbar. Trotzdem passe ein Schraubenschlüssel der richtigen Grösse jeweils besser als ein Engländer. Natürlich könne man den Engländer im Prinzip für alle Muttern brauchen. Aber beim Lösen oder Festziehen der Mutter bleibe beim Engländer immer das Gefühl, etwas stimme nicht hundertprozentig.
Im täglichen Sprachgebrauch hat sich ein Wort etabliert, das oftmals wie ein Rollgabelschlüssel verwendet wird. Auf den ersten Blick scheint es fast überall zu passen und deswegen besonders praktisch zu sein. Die Sprechenden müssen nicht ein ganzes Set an Wörtern mit sich herumschleppen und können mit diesem einen Wort eine Menge ausrichten.
Doch wie beim Engländer im Werkzeugkasten bleibt auch bei diesem fast immer anwendbaren Wort oft ein leicht unbefriedigendes Gefühl zurück. Wie beim Gebrauch des Rollgabelschlüssels in der Werkstatt denkt man nach dem Einsatz des besagten Wortes nicht selten, dass es vielleicht besser gewesen wäre, den genau passenden Begriff herauszusuchen.
Das Wort, von dem die Rede ist, heisst «voll». Gemeint ist freilich eine sehr spezifische Anwendung des Adjektivs «voll». Es ist jenes Voll, das als Bestätigung oder als Bekräftigung gebraucht wird. «Voll» ersetzt gleichsam als Rollgabelschlüssel so unterschiedliche Einzelschlüssel wie «freilich», «tatsächlich», «genau», «sicher», «bestimmt», «wirklich», «unbedingt» und viele andere mehr.
In der alltäglichen Sprachpraxis kann dann ein Dialog zwischen Vater und heranwachsendem Sohn ungefähr so klingen: «Jonas, hast du daran gedacht, dass du heute Abend ins Training musst?» «Voll.» «Das könnte zeitlich knapp werden!» «Ja, voll.» «Du hast ja deine Fussballschuhe noch in der Waschküche.» «Voll?» «Ja, und gell, dein neuer Trainer heisst Moser?» «Voll.» «Überzeugt er dich?» «Ja, voll.» «Glaubst du, dass ihr auch kommende Saison wieder ein gutes Team seid?» «Voll.» «Einer meiner Juniorentrainer hiess auch Moser.» «Voll?» «Willst du wissen, wie er war?» «Voll.» «Er sagte niemals voll.» «Voll?»
Als Beobachter der Sprache möchte ich kein Richter sein. Ein wohlwollendes Grundverständnis für den praktischen Nutzen des Allerweltsadjektivs «voll» ist durchaus gegeben. Dennoch fühle ich beim Hören solcher Dialoge ein Knirschen im Ohr, als würde weit hinten im Maschinenraum des Sprachgefühls ein Schlüssel nicht ganz zur Mutter passen.