«So wie du bist, ist es gut»

Der Luzerner Autor Christoph Schwyzer hat ein Buch mit Prosaminiaturen übers Vaterwerden und den Alltag mit seinem geistig behinderten Sohn Jakob geschrieben. Es sind heitere Texte, die berühren und zum Nachdenken anregen.

Christina Genova
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Christoph Schwyzer beschreibt mit grosser Ehrlichkeit und heiterer Gelassenheit, wie sich sein Leben seit der Geburt seines behinderten Sohnes Jakob verändert hat. (Bild: pd/Norbert Bossart)

Christoph Schwyzer beschreibt mit grosser Ehrlichkeit und heiterer Gelassenheit, wie sich sein Leben seit der Geburt seines behinderten Sohnes Jakob verändert hat. (Bild: pd/Norbert Bossart)

Immer wieder ist da ein Staunen über dieses Kind, sein Kind, Jakob. Jakob, der lächelt, mit einer reinen, hellen Freude im Gesicht. Jakob, der jedem Menschen, ob alt, ob jung, in die Augen schaut und auch die wildesten Katzen zum Schnurren bringt. Jakob, Christoph Schwyzers Sohn, kam an einem heissen Sommertag vor bald sechs Jahren zur Welt. Ausgerechnet er war Vater geworden, der Einzelgänger, der jahrelang allein durchs Leben gegangen war.

Wachsende Liebe

Der 1974 geborene Luzerner Autor begann aufzuschreiben, was ihn bewegte in seinem neuen Alltag mit Kind. Vorerst noch ohne an eine Veröffentlichung zu denken. «Ich hatte nie einen Plan für dieses Buch», erzählt Christoph Schwyzer. Doch sein Verleger Martin Wallimann war von seinen Texten sehr angetan. Sie sind nun, gut fünf Jahre nach Jakobs Geburt, unter dem Titel «Jakob und der Wolldeckenvogel» erschienen. Ehrlich und in einer einfachen, klaren Sprache voller Poesie erzählt Christoph Schwyzer darin von einem allmählichen Kennenlernen, von Zweifeln, von Glücksgefühlen und von einer Liebe, die von Tag zu Tag wächst.

Begeisterungsbehindert

Auch Jakob wächst und gedeiht. Aber da ist sein Kopf. Er ist zu klein, wächst nur langsam. «Sie sollten mit Ihrem Sohn zum Spezialisten», rät die Kinderärztin. Es stellt sich heraus, dass dieses Kind «ganz anders eigenartig ist als die anderen Kinder, die ja alle auf ihre Weise ebenfalls eigenartig sind». Geistige Behinderung, Gen-Deletion, lautet das Urteil der Ärzte. Doch mit dieser Diagnose bricht für Christoph Schwyzer keine Welt zusammen. Seine Liebesgeschichte mit Jakob geht weiter.

Je besser Christoph Schwyzer seinen Sohn kennenlernt, desto mehr ist er überzeugt davon, dass die Diagnose geistig behindert nur bedingt auf ihn zutrifft. Denn Tag für Tag wird er Zeuge seiner Begeisterungsfähigkeit. Er kommt zur Erkenntnis, dass im Gegenteil all die gleichgültigen und abgeklärten «Normalen» ein Defizit haben, «begeisterungsbehindert» sind. Um Jakob zu verzücken, braucht es wenig: einen Strassenmusiker mit seiner Handorgel, die Katze auf dem Autodach, die Mondsichel am Himmel. Jakob hat die Gabe, ganz und gar unvoreingenommen auf Menschen zuzugehen und dem Randständigen im Park genauso wie dem niedergeschlagenen Freund des Vaters ein Lächeln zu entlocken.

Das mangelhafte Kind

Doch nicht immer begegnet man Jakob mit derselben Offenheit. Wenn er sich an der Bushaltestelle jauchzend im Kreise dreht, wird er verächtlich angeglotzt, und im Bus macht sich eine Gruppe Jugendlicher lustig über sein Murmeln und Plappern. Solche Situationen sind für den Vater eine Herausforderung. Er versucht, nicht gleich wütend zu werden und nachsichtig zu sein: «Blicke sind manchmal nicht böse gemeint.» Schon früh werden Christoph Schwyzer und seine Frau mit der Tatsache konfrontiert, dass Kinder wie Jakob nicht erwünscht sind. Beim Genetiker erfahren sie, dass man dank Pränataldiagnostik bei einer zweiten Schwangerschaft «das mangelhafte Kind im Bauch der Mutter entlarven» könne.

Tatsächlich kündigt sich nach einiger Zeit ein Geschwisterchen an. Das Unverständnis der Gynäkologin ist gross, als das Paar alle vorgeburtlichen Testverfahren ablehnt. Doch Christoph Schwyzer und seine Frau sind sich einig: «Wie könnten wir es übers Herz bringen, ein Kind umbringen zu lassen, dessen einziges Problem es ist, seine wunden Punkte an einer anderen Stelle zu haben als wir normalen Menschen?» Ursina-Maria, Jakobs Schwester, ist mittlerweile sechs Monate alt und entwickelt sich prächtig.

Ohne Betroffenheitskitsch

Christoph Schwyzer hat die Erlebnisse mit seinem Sohn nicht zur Verarbeitung aufgeschrieben, sondern aus Freude: «Dank Jakob habe ich so viel erlebt.» Auf keinen Fall wollte er ein Buch schreiben, das um Mitleid heischt. «Ich wollte den Leuten Mut machen», sagt der Autor.

Betroffenheitskitsch sucht man in Christoph Schwyzers geerdeter Prosa tatsächlich vergeblich. Ein heiterer Tonfall durchzieht das Buch, auch wenn der Autor seine gelegentliche Trauer, Überforderung und Hilflosigkeit nicht verschweigt, etwa wenn es ihm nicht gelingt, Zugang zu seinem Sohn zu finden, und dieser tobt, kratzt und beisst. Oder wenn er sich wünscht, dass Jakob, der nur wenig spricht, ihm erzählen könnte, was er während des Tages erlebt hat. Gerne wäre Christoph Schwyzer strenger, konsequenter, geduldiger, und manchmal zweifelt er an seinen Fähigkeiten als Vater, weil Jakobs Verhalten ihn immer wieder an seine Grenzen bringt.

Altmodisches Dienen

Mit Gott gehadert hat Christoph Schwyzer wegen Jakobs Behinderung nie, sondern er empfindet Dankbarkeit: «Ich kann dank Jakob so viel lernen.» Etwa bedingungslose Hingabe, denn Jakob verzeiht es nicht, wenn man nur halbherzig für ihn da ist. Auch Dienen, dieses altmodische Wort, hat sich für Christoph Schwyzer mit neuem Inhalt gefüllt. Er hat gelernt, wie erfüllend es sein kann, die eigenen Bedürfnisse zurückzunehmen.

«Ich werde für deinen Sohn beten, damit er von seiner Behinderung befreit wird», verspricht dem Autor ein ehemaliger Schulkollege. Doch für Christoph Schwyzer wäre es eine traurige Aussicht, wenn Jakob auf einmal normal würde. Am Ende des Buches schreibt er einen Brief an Jakob. Im ersten Satz steht: «Ich muss dir gestehen: Ich wollte nie ein Kind.» Der letzte Satz hingegen lautet: «Ja, Jakob, so wie du bist, ist es gut! Du bist meine Leiter zum Himmel.»

Jakob Schwyzer: Jakob und der Wolldeckenvogel, Martin Wallimann 2013, 200 S., Fr. 33.–