Digitalisierung: Silicon Valleys aufgeblähte Utopie

Ruhig und mit kritischem Blick nähert sich der Philosoph Julian Nida-Rümelin den Umwälzungen unserer Zeit. Und er hat im Gespräch auch ein paar Ratschläge für die Politik parat.

Interview: Rolf App
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Unterwegs in die «Gefällt-mir-Welt»: Facebook sei mehr mit einem Staat zu vergleichen als einer Firma, meint sein Gründer Mark Zuckerberg. (Bild: Jason Doiy/Getty)
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Hält das humanistische Bildungsideal für aktueller denn je: Julian Nida-Rümelin. (Bild: Michel Canonica)

Unterwegs in die «Gefällt-mir-Welt»: Facebook sei mehr mit einem Staat zu vergleichen als einer Firma, meint sein Gründer Mark Zuckerberg. (Bild: Jason Doiy/Getty)

Im Gespräch ist er lebhaft, seinen Vortrag vor der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen über die Bildung im digitalen Zeitalter hält Julian Nida-Rümelin frei. Gern schlägt der Philosoph mit Lehrstuhl an der Universität München Querverbindungen von seinem Fach zur Gegenwart, in die Wirtschaft, in die Politik. Von all dem handelt auch das Buch, das er mit Nathalie Weidenfeld geschrieben und gerade im Piper-Verlag veröffentlicht hat: «Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz». Davon handelt unser Gespräch.

Eine politische Frage zu Beginn: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Populismus?

Ja, es gibt diesen Zusammenhang. Viele Menschen haben das Gefühl, sie werden von einer Entwicklung überrollt, die sie nicht kontrollieren können. Zu dieser Entwicklung gehört die Globalisierung, dazu gehört die Migration. Dazu gehört auch die Digitalisierung. Die Menschen fragen sich: Verschwinden unsere Arbeitsplätze? Eine ressentimentgeladene Stimmung verbreitet sich, die den demokratischen Institutionen gefährlich werden kann.

Was müsste man denn dieser Stimmung entgegen setzen?

Die entscheidende Antwort muss sein, politische Gestaltungskraft zu zeigen. Ich habe fünf Jahre in der Politik verbracht und gesehen, wie bewundernswert entscheidungsorientiert es einerseits zugeht. Andererseits aber verzögern bei uns oft unzählige Hindernisse grössere Projekte. Da muss die Demokratie beweisen, dass sie handlungsfähig ist.

Besonders schwierig scheint das auf europäischer Ebene zu sein, in der EU, in der sich seit einigen Jahren immer grössere Gegensätze auftun.

Ich habe schon in meiner Zeit als Kulturstaatssekretär im Bundeskanzleramt in Berlin den Eindruck gewonnen, dass Europa so auf keinen Fall weiter voranschreiten kann – und sehe heute die einzige Chance für das Überleben der Europäischen Union darin, dass sie die gemeinsamen Werte in den Vordergrund stellt. Das ist nicht aussichtslos. Der Erfolg des Rechtspopulismus hat zu einer Wende zugunsten Europas bei den Jüngeren geführt.

Allerdings ändert das wenig an einer Angst, die Sie erwähnt haben: Dass Digitalisierung unsere Arbeitsplätze frisst.

Ich habe diese Angst nicht. Frühere technologische Innovationen wie die Elektrifizierung oder das Automobil haben stärkere Produktivitätszuwächse nach sich gezogen als die Digitalisierung, deren bisher grösster Schub in den Neunzigerjahren lag. Das hat eine entspannende Wirkung. Bei so tiefen Produktivitätszuwächsen wie seit der Jahrtausendwende kann es per Saldo nicht zu Arbeitsplatzverlusten kommen.

Das heisst, es lohnt sich auch nicht unbedingt, in der Digitalisierung auf die gleiche Karte zu setzen wie in den USA.

Genau. Ich bin der Meinung, Europa sollte gegen das Silicon-Valley-Modell, das auf Kommunikation und Unterhaltung ausgerichtet ist, die digitalen Technologien in den produktiven Kernen der Wirtschaft vorantreiben. Das kann durchaus zu Umbrüchen führen, wie wir sie in der Automobilindustrie erlebt haben. Dort arbeiten immer weniger Menschen in den Fabrikhallen - und trotzdem ist die Zahl der Automobilarbeiter gewachsen. Es gibt deshalb keinen Grund, Angst zu haben, dass in Zukunft Roboter uns ersetzen.

Woher rührt die Tendenz, die Zukunft immer entweder in schwarz oder weiss zu sehen?

Wenn sich in kurzer Zeit viel verändert, verunsichert das die Menschen. Sie sagen dann entweder: Oh wunderbar, jetzt wird alles besser. Oder sie flüchten sich in Ängste. Als die Eisenbahn gebaut wurde, haben seriöse Mediziner erklärt, dass man ab einem Tempo von dreissig Stundenkilometern verrückt wird. Oder umgekehrt: Henry Ford hat damit gerechnet, dass die Ausbreitung des Automobils zum Weltfrieden führt.

Sie erwähnen Henry Ford. Besonders verbreitet ist der Hang zu optimistischen Prognosen in den USA, heute mit dem, was Sie als Silicon-Valley-Ideologie kritisieren. Was ist daran falsch?

Falsch daran ist die übertriebene Erlösungshoffnung, die alles Kritikwürdige überdeckt. Sie hat tiefe Wurzeln in der amerikanischen Kulturgeschichte, die noch weiter zurück reichen – bis zur Gnosis, einer Gegenströmung zum frühen Christentum. Die Gnostiker erwarteten das Paradies im Diesseits, die Christen im Jenseits. Das gnostische Element ist in den politischen Religionen tief verankert, sowohl links wie rechts, im Sozialismus wie im Faschismus. Und im amerikanischen Umfeld im Puritanismus, der sich mit den neuen digitalen Technologien zu einer wunderbar aufgeblähten Utopie verbindet. Sie gipfelt im Glauben, man könne mit künstlichen Intelligenzen jedes Problem der Welt lösen.

In China zeigt sich ein anderes Gesicht der Digitalisierung - jenes der Kontrolle.

Ja, China überwacht und bewertet seine Bürger mithilfe der Digitalisierung. Als Staat ist es in dieser Hinsicht einzigartig. Doch gibt es auch die Überwachung durch Konzerne. Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat denn auch erklärt, Facebook ähnele eher einem Staat als einer Firma. In den Facebook-Gruppen finden sich Gleichgesinnte, und es lebt eine alte anarchistische Idee wieder auf. Timothy Leary, Guru der Hippiebewegung, hat zusammen mit dem Informatiker Jaron Lanier in den Neunzigern die alte Hippievision der totalen Anarchie durch das World Wide Web propagiert. Heute bekommt Lanier einen Schrecken, wenn er die Wirklichkeit sieht.

Besonders gefordert durch die Digitalisierung ist das Bildungswesen. Wie sollten Schulen und Universitäten reagieren?

Wichtiger denn je ist das zentrale humanistische Bildungsideal, das sich in zwei Begriffe fassen lässt: Es geht um Persönlichkeitsbildung und Urteilskraft. Junge Menschen müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst ein verlässliches Urteil zu bilden. Angesichts eines immensen Angebots an Informationen, Meinungen und Ideologien müssen Schüler und Studenten unterscheiden lernen. Sie müssen Zeit haben, Argumente abzuwägen. Das ist es letztlich, was die Schule vor allem braucht: Zeit, um zu vertiefen.