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Kultur
Zehn Tage arbeiteten sie vor Ort ohne einander zu kennen. Entstanden ist eine verspielte Ausstellung, in welcher sie die Grenzen zwischen Genres und Materialien verschieben.
Sie sind zwischen 33 und 37 Jahre alt und leben in der Romandie. Und bis vor zehn Tagen kannten sich die meisten nicht. In St.Gallen sind sie erstmals zusammengekommen auf Einladung von Giovanni Carmine, dem Direktor der Kunsthalle St.Gallen. Gemeinsam haben sie die Ausstellung «La fine ligne» eingerichtet, viele der Arbeiten entstanden vor Ort. In einer nächtlichen Aktion am Kopierer der Kunsthalle stellten sie ausserdem ein gemeinsames Fanzine her. Das Heft ist an der Kasse erhältlich.
Die Schau ist visuell sehr ansprechend und wirkt wie aus einem Guss. Das ist nicht selbstverständlich, aber auch kein Zufall, denn Carmine hat die verschiedenen Positionen mit Bedacht ausgewählt. Von einer Generation oder gar einer Schule mag er nicht sprechen, aber es ist offensichtlich, dass zwischen den fünf Kunstschaffenden eine gewisse Verwandtschaft besteht – was ihre künstlerische Haltung betrifft, aber auch Formales und die Ästhetik. «Man sieht, dass alle in der Westschweiz studiert haben», sagt Carmine.
Von Marine Julié stammt die Wandzeichnung «La Nuit», die sie mit blauer Acrylfarbe direkt auf die Wand gemalt hat. Menschliche und tierische Körper gehen ineinander über, auch die Geschlechter vermischen sich. Assoziationen zu den Graffiti von Keith Haring ergeben sich ebenso wie zu Malereien der Azteken. «Mich interessiert an dieser Arbeit das Körperliche, die physische Präsenz», sagt Julié. Mit vollem Körpereinsatz arbeitet auch Simon Paccaud. Der ausgebildete Schreiner hat mitten in der Kunsthalle eine Wand aus Porenbeton gemauert und seine Zeichnung mit der Bohrmaschine darin eingraviert. «La fine ligne» heisst wörtlich übersetzt «Die feine Linie» und passt deshalb gut zu den ganz unterschiedlichen Zeichnungen von Julié und Paccaud.
Im übertragenen Sinn bedeutet der Ausstellungstitel aber auch «Der schmale Grat» und lässt sich auf Simone Holliger beziehen, die in ihrer künstlerischen Arbeit Grenzen überschreitet. Mit Karton, Heissleim und Farbe baut sie Skulpturen, deren Materialität auf den ersten Blick verwirrt. So sieht die Wandarbeit «Green frame figure» aus, als sei sie aus einem grossen Stück Ton geformt worden. In die Kunsthalle hat Holliger Versatzstücke älterer Arbeiten mitgebracht und vor Ort zu zwei neuen Skulpturen zusammengebaut, die monumental und fragil zugleich sind. Hält es oder hält es nicht? «Manchmal habe ich schlaflose Nächte deswegen», sagt Holliger. Doch nur einmal ist eine ihrer Skulpturen zusammengekracht. Es geht der Künstlerin um die grosse Geste, nicht um Perfektion: Nahtstellen, Rückstände vom Heissleim oder Risse im Papier dürfen sein.
Auch Linus Bill und Adrien Horni gehen an die Grenzen des Machbaren. Ihre «Sculpture p. 15, 2018» war einmal eine Fotokopie. Zuerst entwickelten die beiden Bieler daraus ein 3D-Modell aus Sagex und Zahnstochern. Schliesslich entstand eine beinahe drei Meter hohe und 30 Kilogramm schwere Skulptur aus Ureol, dem Material, aus welchem 3D-Drucke hergestellt werden. Sie sieht aus, als würde sie beim nächsten Windhauch zusammenstürzen. «Uns interessiert die Übersetzung», sagt Adrien Horni. Das gilt auch für die Kunst am Bau-Arbeiten, die sie für eine Schule realisieren durften. Aus eigenen Skizzen und Kinderzeichnungen entstanden krude Abfallkübel aus Bronze.
«La fine ligne», bis 5.4., Kunsthalle St.Gallen.