«Zuhause auf der Strasse» heisst die ausserordentliche Ausstellung im Museum im Lagerhaus. Gezeigt wird das Schaffen von Künstlern, die ständig auf der Strasse unterwegs sind: Ahmed, die St.Galler Jan-Piet Graf und Bobby Moor, Beate Stanislau und Nina Wild.
Wahrscheinlich wird sie nicht kommen, wird sie sich ihre eigene Ausstellung nicht anschauen. Vielleicht, weil sie die Aufmerksamkeit, die ihr und ihrem Werk zukommt, nicht aushalten würde. «Malen ist wie ausziehen», schreibt Beate Stanislau. «Alle können plötzlich sehen, wie du bist. Du hast nur Angst.»
Beate Stanislau lebt obdachlos im wahrsten Sinn, und dies seit 1994. Bis dahin hatte sie zwischendurch eine Wohnung in Leipzig, doch seit sie 1989 die DDR noch vor dem Mauerfall verlassen hat, ist sie als Tramp unterwegs , und zwar «mutterseelenallein. Ich hatte alle sozialen Bindungen hinter mir gelassen und versuchte eine Freiheit, die es nicht gab und niemals geben konnte, denn der Mensch war und blieb ein gesellschaftliches Wesen und zudem war ich eine Frau. … Meine Wege wurden immer seltsamer und hatten jegliche Kontinuität verloren.» Im unveröffentlichten Typoskript «Tramp» reflektiert die 1942 geborene Künstlerin ihre Lebenssituation, kritisch, schonungslos, eindrücklich.
Beate Stanislau studierte am Literatur-Institut in Leipzig und an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, sie arbeitete als Schriftstellerin; in der Zeit, als sie in strukturierten Verhältnissen in der DDR lebte, publizierte sie einige Bücher. Immer aber hat sie neben dem Schreiben auch gemalt und gezeichnet.
Seit sie ausschliesslich auf der Strasse lebt und ihre bescheidenen Besitztümer alle mit sich, auf einen Handwagen gezurrt, herumträgt, sind die ganz grossen Formate weggefallen.
Es ist ein existenzialistisches Werk, das sich im Museum im Lagerhaus ausbreitet. In einen Kokon gezwängt wächst Seltsames aus dem Hirn der nackten Frau. Andere Menschen sind in anderen Zellen aktiv; zur Protagonistin gibt es keine Verbindungen. Runde Blasen erinnern an das Stumme von Fischen.
Beate Stansilau hat sich für ein Leben jenseits der Gesellschaft, jenseits lenkender Strukturen entschieden. Frauenfiguren spielen eine zentrale Rolle in ihrem Werk, Körper-Selbstwahrnehmungen in leuchtenden Farben und gequälten Verdrehungen tauchen häufig auf; Kosmisches schwingt mit. Aber auch ganz Alltägliches wie Strassenansichten oder Zeichnungen von den Bahnhöfen und Imbissstuben, in denen sie sich gerade aufhält, kommen vor.
Vieles ist in Postpaketen verschnürt, vor dem Ausgesetztsein auf der Strasse geschützt. Mangels Lagermöglichkeiten hat die Künstlerin es vorderhand dem Museum im Lagerhaus übergeben. Aber trennen würde sie sich nicht von ihrem Werk. Was sie weggibt, sind meist Fotokopien. Die Originale sind zu sehr ein Stück von ihr selbst und mit ihrem Leben verwachsen.
Heute ist Beate Stanislau mehrheitlich in den Strassen von Zürich zu Hause. Sie hat ihre warmen Plätze zu bestimmten Stunden, an denen sie geduldet ist. Sonst aber ist sie draussen. Duschen tut sie bei McClean. Beate Stanislau, so zeigen es die Fotografien von Franziska Messner-Rast, die sie im Februar dieses Jahres während zwölf Stunden begleitet hat, ist eine Frau, der viel Respekt entgegengebracht wird, die eine Ausstrahlung hat, die Vorurteile von Verwahrlosung Lügen straft.
Monika Jagfeld, die Leiterin des Museums im Lagerhaus, ist über eine Bekannte auf das umfangreiche und erstaunliche Werk von Beate Stanislau aufmerksam gemacht worden. Den Kontakt konnte sie über das Schweizerische Rote Kreuz herstellen.
Beate Stanislau hat den Ausschlag gegeben zu einer gewagten Ausstellung, in der die Kuratorin Ausschau hält nach dem künstlerischen Potenzial auf der Strasse. Gibt es Menschen, die künstlerische tätig sind, obwohl – oder gar gerade weil sie auf der Strasse leben? Um Antworten zu bekommen, scheute sie es nicht, einen öffentlichen Aushang zu machen und verschiedene Hilfswerke wie die Suchthilfe St. Gallen, die Heilsarmee, die Stiftung Pfarrer Sieber oder eben das Rote Kreuz anzuschreiben.
Der Rücklauf war nicht riesig, die Angst vor dem «Nacktsein», dem Ausgesetztsein offensichtlich gross.
Auf den Aufruf der Kuratorin haben sich aber zwei St. Galler gemeldet: Bobby Moor und Jan-Piet Graf. Wie Beate Stanislau reflektiert auch Bobby Moor in seinen Arbeiten die eigene Körperwahrnehmung.
Offen spricht er über sein Leben in übler Drogenabhängigkeit und vom Entzug vor wenigen Jahren, der ihm nur dank der Kunst gelungen sei. Vor einem Jahr konnte er sein Schaffen in einer ersten Einzelausstellung im Rümpeltum in St. Gallen präsentieren. Den eigenen Körper zeigen – in der Ausstellung macht Bobby Moor es mit Bildern und Filmen ab der Handy-Kamera – hat viel damit zu tun, dass er zu sich selber einen neuen Zugang gefunden hat und der Vielfalt von Erscheinungsformen nachspürt. «Nach dem Entzug Boden unter den Füssen zu spüren, war für mich ein überwältigendes Erlebnis, das ich so nicht kannte», erinnert er sich, und so hat er dieses Gefühl auf seiner ersten selbständigen Reise ans Meer festgehalten.
Allerdings wirken die bearbeiteten Bilder seltsam ausserirdisch, als könne er der neuen Wahrnehmung nicht recht trauen. Er habe nicht nur sich, sondern eine ganze Welt neu entdeckt, erzählt der 42jährige Bobby Moor.
Dass er auch malt, grosse, eindrückliche Bilder in einer eigenwilligen Technik mit Flachmaler-Rollern, erwähnt dann Künstlerkollege Jan-Piet Graf. Doch die Kuratorin hat entschieden, nur Werke zu zeigen, die auf der Strasse entstanden sind.
Von Jan-Piet Graf, Sohn des im letzten Sommer verstorbenen Architekten Heinrich Graf, der unter anderem die Sporthalle Kreuzbleiche baute, hat sich in den 90er Jahren in Amsterdam zum Künstler ausbilden lassen. Seit einigen Jahren lebt er wieder in St. Gallen und füllt Skizzenbücher und Blanko-Bierdeckel am liebsten unterwegs in Restaurants mit Zeichnungen; es sind grafische Meisterleistungen, Verdichtungen von Strichen, kleinformatige Arbeiten, die er auch mal gegen ein grosses Bier tausche, wie er erzählt. Eigentlich aber sind es eher private Notationen, die er vom offiziellen Galerienbetrieb fernhalten wolle.
Ausserhalb jeder Wirtschaftlichkeit stehen auch die «Prototypen» von Nina Wild. Sie findet die Bildträger in Kleidersammlungen: ausgestaubte T-Shirts und Jacken versieht sie mit verstörenden Motiven und Sätzen, einem Masturbierenden in Disco-Glitter, dem «Narr Gottes» oder der Bezeichnung «Obdachlosenaufgrübler». Zudem dokumentiert sie jede ihrer Notschlafstellen. So ist seit zehn Jahren eine beachtliche Serie herangewachsen.
Wie Nina Wild lebt auch Ahmed zurzeit in der «Brotstube», einem Abbruchhaus mit Wohngemeinschaften der Sozialwerke Pfarrer Sieber. Seine für «Zuhause auf der Strasse» ausgewählten Bilder kreisen um den Moment der Rettung, etwa wenn Pfarrer Sieber mit der Laterne durchs Nachtlila streift und zwei schlotternde Obdachlose auf einer Parkbank findet.
Noch nie habe sie eine Ausstellung dermassen beschäftigt – auch mit ambivalenten Gefühlen und grundlegenden Fragen, gesteht Monika Jagfeld. Nicht um einen Sozialvoyeurismus geht es in der Ausstellung, sondern um den Versuch, die kreative Kraft der Strasse trotz schwieriger Lebenssituation sichtbar zu machen.
Das eigentlich Eindrückliche dieser Ausstellung sind letztlich dennoch weniger die einzelnen Werke selber, sondern die Dringlichkeit, aus der heraus sie entstanden sind, das Sorgsame, Behütende, das ihnen von ihren Autoren entgegengebracht wird. Es ist die Kunst, die neue Lebensinhalte gibt, die sinnstiftend wirkt. Es ist die Kunst, die – so drückt es Beate Stanislau aus, – «das Leben bewahrt wie ein Korn, das die Sehnsucht nach Landung in sich trägt, um wurzelnd zu spriessen.»
Bis 10. Juli, Di–Fr 14–18 Uhr, Sa/So 12–17 Uhr; Museum im Lagerhaus, Davidstr. 44, St. Gallen; So 10. April 11 Uhr: Pia Waibel liest Beate Stanislau; So 26. Juni 11 Uhr: Künstlergespräch mit Jan-Piet Graf, Bobby Moor, Nina Wild