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Ihr Roman «Kapitulation» ist ein bitteres Panoptikum weiblicher Ausgrenzung. Leicht überladen und didaktisch, aber mit grossartigen Szenen erzählt die Schweizer Schriftstellerin Michèle Minelli von sechs Frauen.
Wow! Dieses Tempo! Die schnellen Schnitte! Die intensive, filmische Szenerie! Michèle Minelli wirft sich mit ihrem neuen Roman wahrlich ins Zeug – formal mit Short Cuts zwischen zeitlich parallelen Szenen, vom Thema her mit hohem Engagement. Man möchte ihr zurufen: Bravo! Diese Autorin fordert dem Leser, der Leserin von der ersten Seite volle Konzentration ab.
Da setzt sich jede Szene mit ihren pointierten Figuren gleich im Kopf fest: Aina, 36, die zornige Performancekünstlerin, die einen Kellner mit ihren Achselhaaren provoziert und im Kunsthaus die Namenstafeln von Malern mit Frauennamen überschreibt; Kirsty, 54, die enttäuschte Übersetzerin, die vom fürsorglichen Exmann zu einem Wettbewerb ermuntert wird, wo sie sich nur deplatziert fühlt; Chloé, 48, ehemals Bestsellerautorin, deren Agent ihr «Sex and Crime»-Romane als Karriereschub empfiehlt und die als Quotenfrau in einer Talkshow vom Grossschriftsteller-Macho ignoriert wird; die lesbische Brigitte, 41, die ihren Orchesterjob wegen männlichen Ellbögelns mit dem Job im Affenhaus eines Zoos getauscht hat und nun einen Samenspender sucht; die Privatmasseurin Yvonne, die Kopftuch trägt und sich bei ihren Manager-Kunden ekelt, sich aber für ihre Kinder und ihren Mann aufopfert.
Sie alle, die wir in Miniszenen kennen lernen, sind Vertreterinnen einer enttäuschten Generation. Sie sind zum Wiedersehenstreffen eingeladen. Die krebskranke Kunstförderin Adrienne, 68, mit künstlichem Darmausgang, hat ihre ehemaligen Stipendiatinnen nach 18 Jahren zum Essen gebeten. Sie, die als Einzige Karriere gemacht hat und an die Parole «Wenn es eine Frau schaffen will, kann sie es heute auch» glaubt, wird sich dort bei veganem Braten und brüchiger Fröhlichkeit mit ihren von Liebe und Gesellschaft desillusionierten Freundinnen heftig streiten.
Wer die Übersicht über die Figuren, ihre Beziehungen und ihr Lebensgefühl zu verlieren droht, braucht sich nicht zu grämen. Hier zielt eine Autorin mit ihrem Panoptikum auf eine gültige Gesellschaftskritik: Die Vielfalt der Figuren ist ihr Beleg für die Grundstimmung. Denn verbittert vom herrschenden Machotum, in Resignation und im Selbstzweifel der Gescheiterten treffen sie sich alle, hoffen auf neuen Mut.
Der Roman passt perfekt zum Zeitgeist. Der Zorn über das Kleinhalten und Runtermachen von Frauen ist seit #MeToo ein Dauerbrenner. In Michèle Minellis Roman lodert dieses Feuer auf einem virtuosen Erzählkarussell szenisch präzis und in einer enorm breiten Beispielhaftigkeit der Diversität heutiger Frauenleben. Das funktioniert die ersten 200 Seiten wunderbar, weil sie ihre Figuren in ambivalente Beziehungskonstellationen stellt und im Ton rasch und souverän von Satire zu Minidrama, von Lakonie zu Emphase wechselt. So schützt sie die Erzählung vor allzu plakativer, eindimensionaler Thesenreiterei. Denn alle Figuren haben ein Geheimnis. Minelli enthüllt es geschickt nach und nach und hält so die Spannung. Und jede Frau bekommt eine eigene Sprache: hier ein schnoddriges «piepegal» und «gopf», da ein hübsches Wienerisch, dort eine Prise Französisch.
Vor dem überraschenden, aber konsequenten Thriller-Schluss wird der Roman zäh. Wenn die Frauen, die einem zuvor in ihrer Ambivalenz und Verletzlichkeit nahe kommen, nach 200 Seiten an Adriennes Tisch sitzen, werden sie zu blossen Lautsprechern von Zeitgeist-Thesen. Da packt Minelli viel zu viel hinein: Krebs, Abtreibung, Transgender, Drogensucht, Veganismus, Sisterhood, Insektensterben, Femizid, Mansplaining, Rassismus, ja sogar chinesisches Dissidententum.
So kippt Ambition in Überambitioniertheit: Minelli lässt ihre Figuren die #MeToo-Debatte geradezu didaktisch durchdeklinieren. Man hört den Frauen zu, als wäre das eine erklärungswütige Selbsthilfegruppe, die zu trotzigen Plattitüden neigt. Wie diese: «Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.»