Saftige, zarte Pinselstriche

Locarno Nostalgie und Nabelschau: Am Sonntag standen am Filmfestival mit «Les Grandes Ondes» auf der Piazza und «Feuchtgebiete» im Wettbewerb zwei sehr unterschiedliche Filme im Fokus. Andreas Stock

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Experimentierfreudige Freundinnen: Marlen Kruse und Carla Juri (rechts) in «Feuchtgebiete» von David Wnendt. (Bild: pd)

Experimentierfreudige Freundinnen: Marlen Kruse und Carla Juri (rechts) in «Feuchtgebiete» von David Wnendt. (Bild: pd)

Wer einen Bestseller verfilmt, der 2008 bei seinem Erscheinen so viel skandalträchtige Aufmerksamkeit erregte wie «Feuchtgebiete» von Charlotte Roche, der kann sich nicht über mangelnde Beachtung beklagen. Dass es die Buchadaption in den internationalen Wettbewerb von Locarno schaffte, hatte überrascht. Und medial wurde im Vorfeld wild spekuliert, wie weit der Film gehen würde in der Umsetzung der wenig appetitlichen Beschreibungen von Teenager-Protagonistin Helen und ihrer Experimente mit Körpersäften und Rebellion gegen die Hygiene.

Inszenatorischer Drive

Nun: «Feuchtgebiete» ist weder pornographisch noch skandalös ekelerregend. Es gibt hier nicht viel mehr zu sehen als das, was mittlerweile bereits zum Ekel- und Sexrepertoire des Mainstreamkinos gehört, das spätestens seit «American Pie» öfters mal mit Schlüpfrigkeiten und Vulgärem spielt. Der Spass am Spiel mit dem Tabubruch in der deutschen Produktion ist freilich dennoch nicht für jeden Geschmack.

So wie die unangepasste, rebellische Helen mit dem Skateboard durch die Strassen oder die Spitalgänge kurvt, so surft Regisseur David Wnendt tollkühn und mit viel inszenatorischem Drive um manche Peinlichkeit herum und streift die Geschmacklosigkeiten meist gerade so sehr, dass es zwar oft flutscht und spritzt , aber keine der Figuren in ihrer Würde besudelt. Unterlegt mit schmissiger Pop- und Rockmusik saftet es nicht nur inhaltlich, sondern auch formal: Der deutsche Regisseur zeichnet in seinem zweiten Spielfilm formal mit breitem, farbigem Pinselstrich: Mit Splitscreen, Schriftinserts, Einzelbildsequenzen, Rückblenden und bunten, kontrastreichen Bildern werden die inneren Monologe der Protagonistin aus dem Roman in eine einfallsreiche Inszenierung übersetzt.

Grossartige Carla Juri

Das unzimperliche Kalkül dieser comichaften Zuspitzung und Überhöhung könnte auch nerven, würde im Zentrum nicht Carla Juri stehen. Die junge Schweizer Schauspielerin hatte nicht nur die Courage, die heikle Rolle anzunehmen, die ihr über die Nacktszenen hinaus sehr viel abverlangt. Aber vor allem gelingt es ihr, Verständnis und Empathie für eine junge Frau zu zeigen, die in ihrer unkonventionellen Art und forschen Schamlosigkeit doch eher Unverständnis auslöst. Hinter der ungestümen Helen legt der Film schliesslich einen jungen Menschen frei, der verletzt und liebesbedürftig ist. Der leidet, weil die Eltern sich getrennt haben, und lernen muss, Menschen zu vertrauen. Carla Juri gibt von der schamlosen Helen mehr preis als Blut und Fleisch – dafür gebührt ihr Lob und Preis.

Mit Witz und Nostalgie

Während am Samstagabend auf der Piazza auch die amerikanische Komödie «We're the Millers» von Rawson Marshall Thurber um eine Drogen schmuggelnde Patchwork-Familie mit viel Klamauk ihren Protagonisten öfters unter die Wäsche ging, war der Humor am Sonntagabend feiner gestrickt. In «Les Grandes Ondes» erzählt Lionel Baier mit Witz und Nostalgie von Schweizer Radiojournalisten, die 1974 nach Portugal geschickt werden, um über Schweizer Entwicklungsprojekte im Land zu berichten. Doch jedes der Projekte erweist sich als Flop: So existiert von einem geplanten Wohnbauprojekt lediglich die Quartierstrasse. Doch dann bricht in diesem April 1974 die Revolution aus – und die zwei Journalisten, ein Tontechniker und ihr jugendlicher Übersetzer geraten mitten hinein.

Angetrieben von der Musik George Gershwins inszenierte Lionel Baier ein märchenhaftes, charmantes Roadmovie. 2008 war er mit «Un autre homme» im Wettbewerb von Locarno vertreten. Hier nun gelingt ihm mit liebevollen Details und ironischer Schweiz-Nostalgie eine zarte Hommage an das Kino der 50er- und 60er-Jahre. Der Film ist auch ein Beispiel für das in der Westschweiz viel stärker gepflegte «Cinéma copain»: So spielt Regiekollege Jean-Stéphane Bron den Direktor des Westschweizer Radios, der vom Bundesrat (Filmer Paul Riniker) beauftragt wird, mehr positive Nachrichten über die Schweiz zu verbreiten. Eine schöne Nachricht ist, dass Baier und seine unter dem Namen «Bande à part» vereinten Kollegen weitere Projekte haben: Ursula Meier, Frédéric Mermoud und Jean-Stéphane Bron planen vier Filme, die, sich je in eine Himmelsrichtung bewegend, Geschichten aus Europa erzählen. Darum ist dem Titel «Les Grandes ondes» in Klammer «à l'Ouest» angefügt.

Schweizer stehen noch aus

In einem durchzogenen Wettbewerb überzeugte bis jetzt besonders «Exhibition» der Britin Joanna Hogg; das eigenwillige Porträt eines Künstlerpaars in einem modernen Haus. Und «Short Term 12» aus den USA, worin Regisseur Destin Cretton berührend und in beinahe dokumentarischer Nähe von einer Auffangstation für schwierige Jugendliche erzählt. Mit den Filmen von Yves Yersin und Thomas Imbach folgen im Internationalen Wettbewerb unter anderen auch noch die beiden Schweizer Beiträge.

«Feuchtgebiete» und «We're the Millers» starten am 29. August in den Kinos, «Les Grandes Ondes (à l'Ouest)» am 14. November.