Regelmässig ist Kellerbühne-Leiter Matthias Peter Gast beim Rilke-Festival in Sierre. In der neuen Eigenproduktion «Entehrung» widmet er sich einer vergessenen Facette des Dichters – den frühen, sozialkritischen Dramen.
ST. GALLEN. Man muss kein Lyrikspezialist sein, um bei sich bietender Gelegenheit mit einer Zeile, einem Vers aus seiner Feder glänzen zu können. «Du musst dein Leben ändern» tönt ebenso gut und einprägsam wie «und dann und wann ein weisser Elefant», «Der Sommer war gross» oder «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr». Seinen wohlklingenden Namen verbinden wir heute mit edler Wortmusik: Rainer Maria Rilke, geboren 1875 in Prag, gestorben 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux.
Verehrt und verklärt, «ein genialer Künstler» und «Inbegriff des Poetischen», wie Marcel Reich-Ranicki einmal schrieb, ist der Dichter Rilke gleichwohl ein wenig aus der Mode gekommen – so wie das Poesiealbum. Wer hätte gedacht, dass er in jungen Jahren sozialkritische Dramen schrieb, dass er Naturalisten wie Hauptmann und Strindberg nacheiferte, als Schriftsteller die Öffentlichkeit suchte? Rilke, ein Revoluzzer? «Als Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjähriger suchte er den Anschluss an die literarische Moderne», erzählt Matthias Peter und wagt eine steile These. «Heute wäre Rilke vielleicht ein Slammer.» Einer, der auch bei ihm im literarischen Programm der Kellerbühne auftreten könnte, wie Pedro Lenz oder Christoph Simon; einer, der Witz mit kritischem Geist verbindet.
Grund genug, aus dreien von Rilkes frühen Dramen eine rund 75minütige szenische Lesung zu bauen, angeordnet als Tryptichon, als literarischer Klappaltar. «Entehrung» – der Titel verheisst neben schöner Sprache auch Skandale, wie sie im Fin de siècle durch alle sozialen Schichten gingen. Die Produktion wirft Licht auf die gesellschaftlichen Zustände in Rilkes Jugend und stellt drei starke Frauen in den Mittelpunkt: Helene aus dem Einakter «Jetzt und in der Stunde unseres Ablebens» – sie gibt sich dem unerbittlichen Hausbesitzer Lippold hin, damit ihre kranke Mutter nicht wegen eines Mietrückstandes vor die Tür gesetzt wird. Eva im Dreiakter «Im Frühfrost» – sie wird an den Agenten Merz verkuppelt, um eine Veruntreuung ihres Vaters zu vertuschen. Und schliesslich Anna im Einakter «Höhenluft» – sie hat mit ihrer bürgerlichen Familie gebrochen und lebt mit dem unehelichen Kind als Näherin in einem engen Mansardenzimmer.
«Rilkes frühe Stücke kamen bei der zeitgenössischen Kritik gut an», sagt Matthias Peter; «er wurde sogar mit Strindberg verglichen.» Dennoch hat er die Texte für den Abend in der Kellerbühne gestrafft, hat Nebenfiguren und «Geschwätzigkeiten» gestrichen. «Manches kann man schlicht weglassen, weil das heutige Publikum schneller begreift, worum es geht», sagt er.
Klar, dass es dafür auch auf der Bühne eine starke Frau braucht. Einmal mehr wird Nicole Knuth in der Kellerbühne zu Gast sein, in St. Gallen bestens eingeführt als Teil des Satire-Duos Knuth & Tucek sowie als Regisseurin des Solos «Fontamara» von Ignazio Silone. Sie wird wie Matthias Peter in verschiedene Rollen schlüpfen – zwei bis drei pro Stück. Dazwischen gibt es kleine Einführungstexte entlang der Biographie: Das verspricht einen Rilke-Abend für Entdeckungsfreudige. Matthias Peter freut sich insbesondere, dass auch eine Schulklasse in einer der drei St. Galler Vorstellungen im Publikum sitzen wird. Das literarische Programm in der Kellerbühne ist ihm wichtig; «ich möchte nicht, dass wir einseitig als Lachtheater wahrgenommen werden», sagt er.
Ihn selbst hat ein Zufall vor Jahren dazu angestossen, sich regelmässig mit Rilkes Werken zu befassen. Er arbeitete mit einer Schauspielerin aus dem Wallis und wurde 2003 erstmals als Schauspieler zum Rilke-Festival nach Sierre eingeladen, «ein charmantes, in der Deutschschweiz wenig bekanntes Festival», das im Dreijahresrhythmus dort stattfindet, wo Rilke seine letzten Lebensjahre verbrachte: auf Schloss Muzot und rundherum, in malerischer Umgebung. In Sierre entstanden die berühmten «Sonette an Orpheus», die «Duineser Elegien», sogar Walliser Gedichte in französischer Sprache. Heute gibt es dort zweisprachige Lesungen auf dem Winzerwanderweg, mit Rilkes Landschaft vor Augen. Park und Schloss werden bespielt, ein Lyrikwettbewerb krönt die dreitägige Veranstaltung.
Neugierig auf das Festival zu machen, den «hehren Rilke» einmal von einer anderen Seite zu zeigen, das reizt Matthias Peter und Nicole Knuth. «Ich schätze aber auch die Lyrik Rilkes», sagt Matthias Peter, «oder die Radikalität, mit der er beispielsweise in seinem <Brief an einen jungen Dichter> zu Geduld mahnt.» Das sei eine starke Botschaft, die sich quer stelle zu unserer hektischen, oberflächlichen Gegenwart. Zu reifen wie ein Baum: An Rilkes Werk kann man diesen Prozess beobachten. Die Jugenddramen sind da, rückblickend betrachtet, keineswegs eine «Entehrung» des Dichters.
Mo, 23.5., Mi, 25., Do, 26.5., jeweils 20 Uhr, Kellerbühne St. Gallen