Warum fehlt uns der Mut, die widersprüchlichen Klischees endlich zu pulverisieren? Eine Ausstellung im Schweizer Landesmuseum ist hilfreich.
Die Frage ist einfach, die Antwort darauf ist es weniger: «Warum essen Schweizer Katzen?» Wenn russische Google-Benutzer das Stichwort «Schweiz» eingeben, gehen sie einem ungustiösen Verdacht nach. Weil die Suchmaschine die Begabung hat, eingegebene Begriffe mit der häufigsten Suche automatisch zu ergänzen, stösst man so auf die beliebtesten Klischees über unser Land. Und die sind deftig.
Wieso essen Schweizer Katzen? Wieso sind sie so langsam, kalt und unfreundlich? Warum heiraten Schweizer Russinnen? Banales und Bizarres trifft sich, wenn sich andere Menschen über uns Gedanken machen. Aus Deutschland lautete die brennende Frage offenkundig: Was ist nur los mit den Eidgenossen? Wir Deutschen lieben die Schweiz, doch die liebt offenbar nur sich selbst.
Wenn man ernst nimmt, was an Irritationen und Zerrbildern über unseren Staat und unsere Wesensart existiert, ist es angebracht, die neu eröffnete Ausstellung im Landesmuseum in Zürich zu besuchen: «Wunderbar widersprüchlich» heisst sie und ist die Schau, die mit Google-Erhebungen und anderen Belegen Schweiz-Klischees abklopft. Fakten sollen uns eines Besseren belehren. Ländervergleiche, Statistiken und Kuchengrafiken des eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten zum Beispiel.
Der Versuch ist löblich, wenn auch nicht brandneu. Der Mythos vom Sonderfall Schweiz hält sich mit einer Langlebigkeit von resistenten Viren. Und das tut er offensichtlich vor allem in unseren eigenen Köpfen. Dort scheint eingebrannt: Wir sind etwas ganz Besonderes. Entweder sind wir überragend verwerflich, kriminell und hinterfotzig: Die Schweiz vampirisiert die Länder des Weltsüdens und brütet Banker-Gnomen aus (Das Buch «Die Gnome von Zürich» prägte in den 1960er-Jahren den Begriff für Schweizer Bankiers).
Oder aber wir sind vatikanische Musterschüler, beseelt vom Geiste Henry Dunants und bis heute den «guten Diensten» verpflichtet, auf die wir so stolz sind, als ob wir sie persönlich leisteten.
Ein Beispiel des sonderbaren Schweiz-Gebarens: Seit 1953 überwacht das Land die Einhaltung des Waffenstillstandes zwischen Nord- und Südkorea. Als Bundesrätin Micheline Calmy-Rey 2003 die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea überschritt, liess sie sich dafür Turnschuhe aus rot-weissem Leder anfertigen.
Die Treter, so gut wie ungebraucht, sind ein Exponat in der Ausstellung und entbehren unter einem Glassturz nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Würde an dieser Stelle nicht vielmehr der politische Impact der Tat interessieren? Doch jedes unserer Werke, sagen uns die Schuhe, soll gross und von Weltgeltung sein. Auch wenn es sich nur um ein Schuhwerk handelt.
Wir sind ein Land von lila Kühen, blutigen Bankern und juchzenden Ricola-Erfindern. Vor der Türe ragen die schönsten Berge, vor den Bergen liegen die klarsten Seen, an denen wir uns betrinken können, so sauber ist das Wasser. Und wer noch immer nicht genug hat, taucht in eine Schweizer Stadt ein. Er wird dort von einem Uhrenverkäufer freundlich mit «Grüezi» begrüsst.
Kein anderer Staat hängt derart heftig an seinen Stereotypen wie wir. Doch warum nur, und weshalb fehlt der Mut, hinzusehen und anzuerkennen, legitime Qualitäten genauso wie illegitime Schönfärberei? Dass Profit und Privileg sich bedingen, will uns scheinbar nicht in den Schädel.
Wohl deshalb entspricht das Selbstverständnis der Schweiz dem eines Zwergs, der sich als Scheinriese wähnt, um sich – und seinen Nachbarn – Eindruck zu machen. Dass er tatsächlich enorm ist, will er nicht wissen. Die Ausstellung «Wunderbar widersprüchlich» regt an zu einer Einsicht: Unserem schönen Land zwischen Selbstverzwergung und Grössenwahn würde die Psychiatrie eine schizoide Persönlichkeitsstörung diagnostizieren.
Das Übel kommt ja auch nicht von ungefähr. Wir belegen auf der Weltkarte die Grösse eines Fliegenschisses. Doch als Nationen-Marke sind wir die Welt-Leader. Nun hoffen wir, dass diesen Erfolg niemand bemerkt, um uns dafür verantwortlich zu machen. Es ist zum Verrücktwerden.
«Wunderbar widersprüchlich», das Selbst- und Fremdbild der Schweiz, Landesmuseum Zürich, bis 24.4.2022.