Vorarlberg ist wieder im Liederfieber; die Schubertiade ist nach der Zwangspause zum vollen Programm zurückgekehrt. In Hohenems findet derzeit der erste Konzertzyklus des Jahres 2022 statt – mit klassischen Kammermusik- und Liederabenden, aber auch mit «Schubadours» wie The Erlkings, die aus Schuberts Balladen fröhlich gepflegten Folkrock machen.
Ist der romantische Liederabend - ein Steinway, zwei ernst dreinschauende Herren im Frack, vielleicht noch eine junge Dame im Hintergrund zum Umblättern am Flügel - nach zwei Jahren Corona-Pandemie ein Auslaufmodell? Viele haben es befürchtet, und das schon lange vorher, noch ohne Virus. Gäbe es da nicht nach wie vor die Hotspots dieser vergleichsweise steifen, hochkonzentrierten Vortragsform. Die Wigmore Hall in London beispielsweise, Hort anspruchsvoller Kammermusik, veranstaltet im Durchschnitt 150 Liederabende pro Jahr.
Die Schubertiade Hohenems und Schwarzenberg zieht seit Jahrzehnten das liedaffine Publikum aus ganz Europa an, und daran hat sich nichts geändert, mag man die Gattung Lied auch immer wieder totsagen. Sicher, der Anteil der Über-Fünfzigjährigen im Publikum ist hoch im akustisch vielgerühmten Markus-Sittikus-Saal am Wochenende in Hohenems - zunächst einschüchternd hoch für eine Sechzehnjährige als neugierige Begleitperson. Aber immerhin, die Damen und Herren sind zurück, und sie hören das meist Wohlbekannte nun mit noch mehr Wertschätzung und sinnlichem Genuss. Etwa den Tenor Christoph Prégardien, seit fast dreissig Jahren regelmässiger Gast an der Schubertiade, unterdessen der Grandseigneur des klassischen und romantischen deutschen Lieds.
Der erste Eindruck: Mit unterdessen 66 Lebensjahren ist Prégardien zwar in Ehren ergraut und verausgabt sich nach dem offiziellen Programm nicht mehr wie früher mit Zugaben noch und nöcher. Aber die Stimme tönt beinahe jugendlich frisch, unangestrengt geschmeidig und lyrisch in den innigen Liedern, andererseits fähig zu kraftvoller Expressivität, wo es ins Schauerliche oder Tragische geht - so in «Der Doppelgänger» oder «Der Atlas» auf Gedichte von Heinrich Heine. Ohne forcieren zu müssen, kann sich Prégardiens stets gepflegter (aber nicht um jeden Preis im Zaum des Schönklangs gehaltener) Tenor bestens behaupten neben dem volltönenden Flügel, den Julius Drake keineswegs nur mit Fingerspitzen und Samthandschuhen anfasst.
Mag die konzertarme Zeit schwierig gewesen sein für die Veranstalter und für die Künstlerinnen und Künstler: Manch einem hat die Ruhepause auch gut getan, das wird an diesem Liederabend hörbar. Das viele Reisen, Auftritte unter ständig wechselnden Bedingungen, oft mit üppig besetzten Orchestern in viel zu grossen Sälen, setzt Sängern zu, so gern sie auch vor Publikum stehen. Christoph Prégardien war das Lampenfieber, von dem in Interviews gern erzählt, nie anzumerken. Aber zuweilen fragte man sich vor Corona doch, wie die international tätigen Vokalstars ihr Pensum bewältigen, ohne der Stimme Schaden zuzufügen.
Umso schöner, dass er wieder und immer noch existiert: der klassische Liederabend, frontal, auf den ersten Blick vielleicht ein wenig elitär - aber letztlich doch aus Ingredienzien, die auch die Popkultur seit Jahrhunderten prägen, unerfüllte Liebe, zarte Hoffnung, Ungeduld, Verzweiflung. Oder, wie es im Lied «Frühlingssehnsucht» heisst: «Rastloses Sehnen, wünschendes Herz». Nie wirkt es routiniert bei Christoph Prégardien, souverän dagegen schon.
Er vermag sich in heroische Posen zu werfen, um Sekundenbruchteile später alles mit vollem, zartfühlendem Herzen als Getue zu entlarven («An die Leier»). Er überzeugt mit vorbildlicher Diktion, so dass auch Neulinge in Schuberts und Schumanns Kosmos nicht die Nase ins Textheft stecken müssen. Zugleich spannt er wunderbare, schier endlos lange Legatobögen aus hellen Tenorsphären in erdige baritonale Tiefen («In der Ferne»).
Streng dogmatisch ist die Schubertiade unterdessen nicht mehr, was ihre Gästeliste und die Programme betrifft. Zwar stehen Schubert, Schumann und die Wiener Klassik immer noch im Mittelpunkt, mit Liedern, Klaviermusik und Streichquartetten. Doch ein Blick ins Programmheft des ersten Zyklus zeigt: Es geht auch anders, wenn die Qualität stimmt. Da spielt ein Kit Armstrong neben Schubert-Impromptus auch Werke William Byrds (1538-1623) und hat Gedichte der Lyrikerin Ulla Hahn (*1945) vertont. Das Auftaktkonzert ist zwar Schuberts Balladen gewidmet - aber in englischer Übersetzung und besetzt mit Gitarre, Cello, Tuba.
Der Amerikaner Bryan Benner, Frontmann der Schubert-Band The Erlkings, singt zur Klampfe, «Who rides in the night so late and wild?». Wo sonst der Pianist mit hämmernder Oktaven Gruselstimmung erzeugt, klingt hier die Tuba schaurig und alles andere als gemütlich. Dem Geist der Schubertiade, dem geselligen Musizieren unter Freunden, entspricht das mindestens so sehr wie der Liederabend im herkömmlichen Format.