MundartLiteratur
Auf einen Kaffee mit der Urnäscher Erzählerin Esther Ferrari: «Die schönen Bräuche werden nicht verloren gehen»

Ungestrählte Schutzengel kommen in ihren Mundartgeschichten zum Einsatz, ein Kalb will ausgerechnet an Heiligabend geboren werden, und Zäuerli werden nicht ins Schriftdeutsche übersetzt. Rechtzeitig zum Fest ist ein zart illustrierter Band mit Appenzeller Weihnachtsgeschichten von Esther Ferrari erschienen.

Bettina Kugler
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Sie liebt die Stimmung rund um Weihnachten – aber Weihnachtsmuffel bekehren will Esther Ferrari keineswegs.

Sie liebt die Stimmung rund um Weihnachten – aber Weihnachtsmuffel bekehren will Esther Ferrari keineswegs.

Tobias Garcia

Den Weg nach St. Gallen nimmt Esther Ferrari gerne auf sich – allein schon weil das behaglich eingerichtete Klosterbistro im Schatten der Kathedrale und der Stiftsbibliothek ein trefflicher Ort ist, um in ihren Appenzeller Weihnachtsgeschichten zu blättern. Hat da nicht gerade ein etwas abgerissenes Englein zum Fenster hereingelugt? «Sis Hoor isch nüd gschträäled worde, d Fingernegel hönd schwarzi Rändli kaa ond sis Chleid öberal Flecke ond Löcher...»: Ja, vielleicht war es doch der Zuusli, Lieblingsengel der Erzählerin und Journalistin. Und da – hört man nicht aus der Kathedrale leise eine geflügelte Kollegin «In dulci jubilo» singen, als wäre schon Weihnachten?

Erschienen ist das schmale, von Katja Nideröst mit leuchtend zarten Aquarellen illustrierte Bändchen zum Vorlesen und Nacherzählen erst kürzlich; Esther Ferrari aber hätte Stoff für etliche Nachfolgebände. «Schubladen voll» habe sie, «Angefangenes und Halbfertiges». Nur fehlt ihr meist die Zeit, die Puzzleteile zusammenzulegen, geschlossene Geschichten daraus zu machen wie «E Chrippeschpiil im Schtall», «De Vetter Theophil» oder «Vom Engeli Zuusli».

Gewitzte Appenzeller Bodenständigkeit

Esther Ferrari: Appenzeller Weihnachtsgeschichten. Appenzeller Verlag, 112 S., Fr. 24.–

Esther Ferrari: Appenzeller Weihnachtsgeschichten. Appenzeller Verlag, 112 S., Fr. 24.–

Bild: Verlag

Im Buch findet man sie jeweils in Urnäscher Mundart und in Schriftdeutsch: Es sollen ja nicht nur Appenzeller etwas davon haben. «Einmal habe ich in Gottlieben gelesen», erzählt sie, «zusammen mit einem Schuppel kleiner Silvesterchläuse. Da wurde ich gefragt, ob ich auch etwas in Schriftdeutsch lesen würde. Einer der Buben fragte schlagfertig: ‹Müssen wir dann auch in Schriftdeutsch zäuerlen?›» Diese gewitzte Bodenständigkeit blitzt oft in Esther Ferraris Geschichten auf.

Man spürt, dass ihr Weihnachten viel bedeutet: das Stillwerden und Staunen rund um das christliche Fest, die Bräuche. Diese seien stark und würden nicht so schnell verschwinden: Man sehe es daran, dass etwa die Silvesterchläuse gegen Coronamassnahmen aufbegehrten. Bei dem Gedanken ist ihr unbehaglich. Toleranz aber steht auf ihrer Werteskala sehr weit oben:

«Wenn jemand mit Weihnachten und den Festtraditionen nichts anfangen kann, muss ich nicht missionieren.»

Sie erinnert sich daran, dass es in der Familie oft hektisch zu- und herging, noch Stress und Streit gab vor dem Fest, dass man dachte, gar nicht feiern zu wollen. «Das legte sich jedoch zuverlässig.» Der Vater, Confiseur von Beruf, habe immer bis zum Schluss noch viel Arbeit gehabt. In die Christmette habe er es aber stets geschafft.

Die Ideen kommen laufend – oder beim Putzen

Auch im Coronajahr ist es Esther Ferrari nie langweilig geworden. «Ich habe fast zu viel gehabt von allem», sagt sie und lacht. Ihren achtzigsten Geburtstag konnte sie im September feiern. Mit dem Sohn ging sie auf Bergtour; auch das Velo kam ausgiebig zum Einsatz. Die Ideen für Geschichten kommen ihr nicht am Schreibtisch, sondern laufend - oder beim Putzen. Manuelle Arbeit hilft ihrer Fantasie auf die Sprünge.

Erzählen hat in ihrer Familie Tradition; die Geschichte vom Vetter Theophil hat sie von der Mutter. In andere Texte fliesst Erlebtes mit ein: etwa die Geburt eines Lämmchens in der Heiligen Nacht. Im Buch ist es ein Kalb, für das ein Krippenspiel im Stall improvisiert wird.

Genussvolle Familientradition

Kulturredaktorin Bettina Kugler (links) und die Autorin Esther Ferrari, im Gespräch über Engeli und Appenzeller Bengeli.

Kulturredaktorin Bettina Kugler (links) und die Autorin Esther Ferrari, im Gespräch über Engeli und Appenzeller Bengeli.

Bild: Tobias Garcia

Zwischen Marktplatz und Kloster St. Gallen sind die Himmelsboten in den Geschichten Esther Ferraris anzutreffen, und auch die Autorin, aufgewachsen in Azmoos und seit 1965 in Urnäsch lebend, fühlt sich zu Hause hier. Nur einen Steinwurf weit, mit Blick auf den Stiftsbezirk, steht das Haus ihrer Urgrosseltern: 1875 eröffnete dort Ludovico Ferrari, Chocolatier aus dem Tessin, eine Praliné-Manufaktur; seine legendären Geheimrezepte gab er später an Georg Scherrer weiter. Noch heute wird im Haus zum Ferrari die Tradition der feinen Schokoladenkreationen weitergeführt; nur ist das Café im ersten Stock derzeit geschlossen.

Feiern wird Esther Ferrari dieses Jahr im kleinen Kreis und in Etappen; an Heilig Abend wird nicht das ganze Dutzend Enkel kommen können, zehn Personen aber werden es sein. Sie wird kochen und nicht zu viel erzählen, damit die anderen zum Zuge kommen: «Ich sollte auch einmal zuhören.» Was sie sich wünscht? «Nichts», sagt sie spontan, und es tönt überzeugend. Dass alle in Frieden leben können und gesund bleiben, wäre ein frommer Herzenswunsch. 2020 mehr denn je.