Der britische Dirigent und Organist Wayne Marshall hat in St.Gallen eine grosse Fangemeinde. Nach dem ersten von drei Abenden mit Gershwins Südstaatenoper in konzertanter Fassung dürfte sie weiter wachsen. Vier schwarze Powerstimmen, der Chor des Vorarlberger Landeskonservatoriums und das Sinfonieorchester St.Gallen trugen mit Verve und rhythmischer Präzision dazu bei.
Wann gibt es das sonst? Statt des schwarzglänzenden Steinway-Flügels steht ein verstimmtes Klavier auf der Bühne der Tonhalle - offen. Das Innenleben mit Saiten und tanzenden Hämmerchen ist vom Parkett aus gut sichtbar. Gleich zu Beginn des sehr speziellen Opernabends wird Dirigent Wayne Marshall hier in die Rolle des Jesbo Brown aus George Gershwins American Folk Opera «Porgy and Bess» schlüpfen und virtuos die flirrend-schwüle Atmosphäre in der Catfish Row heraufbeschwören, der erfundenen Hafenmeile von Charleston, South Carolina.
Zwar sind wir in St.Gallen, aber im Saal und draussen auf dem Vorplatz zwischen Tonhalle und Theaterprovisorium hat der Sommer seinen ersten grossen Auftritt – ganz wie im zum Evergreen gewordenen Gershwin-Song «Summertime». Das Leben fühlt sich leicht an, beschwingt. In der halben Stunde vor dem nahezu ausverkauften Konzert und der zeitgleich im Umbau programmierten Vorstellung des Musicals «Jesus Christ Superstar» bekommt man einen Vorgeschmack darauf, was künftig ein «Third Place» geselliger Kultur sein soll. Hier trifft sich, verabredet oder zufällig zusammengestellt, das an diesem Abend erfreulich vielfältige Publikum: Schülergruppen, elegant oder sommerlich leger gekleidete Damen und Herren. Klassikliebhaber, Jazzfans, die Generation Spotify. Mit Cüpli oder Znacht to go.
Doch zurück in die Tonhalle, zu Wayne Marshall und den vielen, die am Mittwochabend mit ihm zusammen auf der Bühne sassen und standen: ein musikalisch überschäumender Meltingpot. Hinter dem gross besetzten Sinfonieorchester St.Gallen (mit Banjo, Saxofonen, viel Blech und Schlagwerk, aber auch reichlich Streichern, schliesslich handelt es sich um eine tragische Lovestory) der Chor des Vorarlberger Landeskonservatoriums Feldkirch (Einstudierung: Benjamin Lack): rund fünfzig talentierte, bestens vorbereitete Sängerinnen und Sänger. Sie begeisterten mit jungen Stimmen, Verve und Präzision - und mit zwei kleinen Soli aus dem Chor heraus, die es unforciert bis in die hintersten Reihen schafften.
Neben Marshall zwei Sängerinnen und zwei Sänger, denen die Rollen auf den Leib, die Partien auf die Stimme geschrieben sind: Indira Mahajan, Alison Buchanan, Ronald Samm und Gordon Hawkins. Sie stehen nicht händeringend an der Rampe, sondern stürzen sich auf wenigen Quadratmetern und ohne szenische Hilfsmittel, dafür mit flexiblen, facettenreichen Powerstimmen kopfüber ins Drama: mal fies und schmierig, wie Ronald Samm in «It Ain't Necessarily So», mal verletzlich, energisch, herzerweichend. Porgy (Gordon Hawkins mit warmem Bassbariton) und Bess (die sehr wandlungsfähige Indira Mahajan) liegen sich auch, wenn ihr Duett es nahelegt, in den Armen, und es wirkt kein bisschen gespielt und aufgesetzt.
Die Fäden in der Hand hat Wayne Marshall am Dirigentenpult. Seine Musikerkarriere ist mit dem Namen Gershwin eng verbunden; «Porgy and Bess» hat er an vielen bedeutenden Häusern und Festivals dirigiert, auch auf der Seebühne in Bregenz. Die konzertante Fassung stammt aus seiner Feder; sie ist eine prägnante Kurzversion, 80 Minuten lang. Die Hits dürfen nicht fehlen, sie werden aber sehr suggestiv verwoben.
Wo immer möglich, lässt Marshall die Zügel locker. Doch eine rhythmisch wie harmonisch so reiche Musik erfordert von allen Aufmerksamkeit, in jedem Sekundenbruchteil. Das gelingt mitreissend: Mäuschenstill klebt man am Sitz und möchte zugleich tanzen oder mitsingen, klatschen, trommeln. Das Orchester spielt nicht oberflächlich über die dunklen, tragischen Seiten der Oper hinweg. Aber vor allem sprüht es vor Energie und Lebenslust und beweist einmal mehr seine erstaunliche stilistische Bandbreite.