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Ab sofort können sich Gehörlose städtische Anlässe in Gebärdensprache dolmetschen lassen. Die Initiative dafür ging nicht vom Stadtrat oder Parlament aus, sondern von einer Petition. Petitionäre und Gehörlose freuen sich über das neue Angebot.
Er sei überwältigt, sagt Cem Kirmizitoprak. Dass seine Petition vom St.Galler Stadtrat tatsächlich gutgeheissen wurde, damit hätte er wirklich nicht gerechnet. Denn sie hätten nur rund 700 Unterschriften zusammengebracht, er hatte Angst, dass der Stadtrat die Petition stillschweigend zur Kenntnis nimmt.
Kirmizitoprak betreibt in St.Gallen eine Beratungsstelle für Inklusion, sitzt seit seiner Geburt im Rollstuhl, und kämpft hartnäckig für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung. 2019 lancierte er die Petition, die Dolmetscher für Hörbehinderte an allen öffentlichen Informationsanlässen fordert. Seit Donnerstag ist klar: Das wird umgesetzt.
Stadträtin Sonja Lüthi bestätigt, dass jetzt an allen Anlässen, die von Seiten der Stadt ausgerichtet werden und die öffentlich zugänglich sind, Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdensprachdolmetscher übersetzen können. Diese werden nicht automatisch aufgeboten, sagt Lüthi. Wenn man einen Gebärdensprachdolmetscher wünsche, müsse man das vorher anmelden. Und ja, das Angebot gelte für alle städtischen Anlässe: Das könne die Jungbürgerinnenfeier sein, die 1.-August-Rede, Anlässe vom Forum für Integration, oder auch der Besuch einer Parlamentssitzung.
Wie viele Personen in St.Gallen gehörlos oder im Hören beeinträchtigt sind, kann Lüthi nicht sagen. Auch nicht, wie viele vom neuen Angebot der Stadt Gebrauch machen werden. Gemäss der Strukturerhebung des Bundesamts für Statistik haben schweizweit etwa 1400 Personen Gebärdensprache als Hauptsprache. Das entspricht einem Anteil von 0,02 Prozent der Wohnbevölkerung. Trotzdem sei es wichtig, dass die Stadt dieses Angebot mache, sagt Lüthi:
«Es geht darum, alle Menschen miteinzubeziehen.»
Die Kosten für dieses Angebot kann Sonja Lüthi noch nicht abschätzen. Für einen zweistündigen Anlass müsse man mit 600 Franken für Gebärdensprachdolmetschen rechnen. Jeder Anlass müsse die Gebärdensprachdolmetscher selber ins Budget miteinberechnen.
Warum hat die Stadt erst jetzt dieses Angebot lanciert? In der Schweiz ist die Behindertenrechtskonvention bereits seit 2014 in Kraft. Sonja Lüthi sagt: «Das ist immer eine Frage der Nachfrage. In meiner Zeit hat noch niemand danach gefragt.»
Einer, der sich sehr über das neue Angebot der Stadt freut, ist Roland Schneider. Der Präsident des Gehörlosen Clubs St.Gallen sagt: «Ich finde es recht und fair, dass wir auch die gleichen Informationen bekommen. Die Gehörlosen haben ein grosses Bedürfnis nach Gebärdensprachdolmetschern.» Er bedauert, dass es in der Stadt St.Gallen so lange gedauert hat, bis ein solches Angebot geschaffen wurde.
«Wir Gehörlosen müssen immer um barrierefreie Zugänge kämpfen.»
Viele seien sich dessen oft nicht bewusst oder würden einfach denken, das brauche es nicht. Schneider hingegen sagt: «So ein Angebot muss es unbedingt geben!» Der Schweizerische Gehörlosenbund geht von rund 10'000 vollständig gehörlosen Personen in der Schweiz aus. Bis zu 600'000 Personen sind leicht bis hochgradig schwerhörig, sie gelten als hörbehindert.
Doch egal, wie viele Gehörlose an einem Anlass teilnehmen: Es sei ein Menschenrecht, teilzuhaben. Schneider sagt:
«An öffentlichen Anlässen verstehen wir kein Wort.»
Es werde Dialekt gesprochen oder viel zu schnell, Gehörlose müssen von den Lippen ablesen und können dann nicht mitverfolgen, was gesprochen wird.
Der Gehörlosen Club St.Gallen hat über 100 Mitglieder. Doch es gebe in der Ostschweiz und in St.Gallen weit mehr gehörlose Menschen. «Fast alle kommunizieren hauptsächlich in Gebärdensprache», sagt Schneider. Er selber wohnt in Appenzell Innerrhoden. Auf seine Initiative hin wurde die Landsgemeinde Appenzell bereits zwei mal live in Gebärdensprache gedolmetscht, obwohl nur zwei Gehörlose teilnahmen. Aber:
«Das ist mein Menschenrecht.»