FREIPASS #18
«Mich beschäftigt die Spaltung unserer Gesellschaft»: Der Orchestermusiker Karl Schimke im Fragebogen

Jede Woche spielen wir Ostschweizer Kulturschaffenden den Ball zu und fragen: Was lernen Sie gerade neu? Worauf freuen Sie sich? Heute mit dem Musiker Karl Schimke, Solo-Tubist des Sinfonieorchesters St.Gallen. Er hat sich jüngst in den Markusdom verliebt und übt bereits fleissig auf ein Brass-Konzert im Januar.

Bettina Kugler
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Karl Schimke, Tubist, Musikvermittler und Kommunikator des Sinfonieorchesters St.Gallen – ausserdem Stadtparlamentarier.

Karl Schimke, Tubist, Musikvermittler und Kommunikator des Sinfonieorchesters St.Gallen – ausserdem Stadtparlamentarier.

Bild: Michel Canonica

Karl Schimke sitzt auf der Bühne stets ganz hinten im Orchester, mit einem grossen Instrument: der Tuba. In Konzerten für Kinder, Jugendliche und Familien aber wechselt der 1971 in Boston geborene Musiker gern nach vorn an die Rampe und moderiert humorvoll – als Musikvermittler und Kommunikator des Sinfonieorchesters St.Gallen. Die Programme konzipiert er selbst, das Spektrum reicht dabei von Gregorianik (mit einem Wiedergänger Notkers im Barocksaal der Stiftsbibliothek) bis zu Filmmusik; 2016 entstand sogar mit Primar- und Sekundarschülern aus der Region eine eigene Komposition: das «K-Projekt».

Seit 1996 ist Schimke Orchestermitglied, studiert hat er in Chicago und Zürich, 2011 einen zusätzlichen Abschluss in Musikvermittlung und Konzertpädagogik gemacht. Neben seiner Orchestertätigkeit engagiert er sich in verschiedenen Kammermusikensembles, unter anderem dem Brass Quintett St.Gallen und dem Quintetto Inflagranti, und tritt regelmässig als Solist auf. Seine Freizeit verbringt der Musiker am liebsten mit der Familie; er kocht, gärtnert, treibt Sport – und ist als Mitglied der FDP im St.Galler Stadtparlament.

Was lernen Sie gerade neu?

Im Moment übe ich fleissig für ein Konzert der Reihe «Sonntags um 5» mit dem Brass Quintett St.Gallen. Dieses ist zwar erst im Januar, aber die Stücke, die wir spielen werden, sind für uns alle neu, und sie haben es in sich! Wir werden vier aufregende Originalstücke für Brass Quintett spielen – von so bedeutenden Komponisten wie Charles Ives, Michael Tilson Thomas und Leonard Bernstein! Damit wir relativ entspannt musizieren können, müssen die Stücke jetzt schon intensiv gelernt und geprobt werden.

Welches Kunstwerk haben Sie zuletzt für sich entdeckt?

Während der Herbstferien habe ich mit der Familie eine kleine Italienreise gemacht und dabei ganz viel Neues für mich entdeckt. Den stärksten Eindruck hat die Basilica di San Marco in Venedig hinterlassen. Ich wollte sie unbedingt besuchen, denn für diesen Raum hat Giovanni Gabrieli seine fantastische mehrchörige Musik geschrieben. Die Kirche und ihre Mosaiken haben mich komplett überwältigt! Wahnsinn!

Ein Freipass für Ostschweizer Kulturschaffende

Es ist Zeit für einen vorsichtig optimistischen Blick in die Zukunft. Deshalb erscheint jeden Freitag unser Fragebogen, den wir sportlich «Freipass» nennen. Jede Woche spielen wir einer oder einem Ostschweizer Kulturschaffenden den Ball zu und sind gespannt, welche Antworten sie uns geben. Den «Freipass» nehmen wir dabei wörtlich: Wir redigieren die Antworten nur minimal und kürzen allenfalls, bearbeiten sie aber nicht weiter.

Was hat Sie in den letzten Monaten am meisten beschäftigt?

Mich beschäftigt die Spaltung unserer Gesellschaft sehr. Ich befürchte, dass die absolute Polarisierung, die in Amerika stattgefunden hat, ihren Weg nach Europa und in die Schweiz finden wird. Es ist immer einfach, sich durch Abgrenzung gegenüber anderen zu definieren, aber für die Gesellschaft ist das sehr problematisch. Das Denken in «links-rechts» oder «geimpft-ungeimpft» oder «Stadt-Land» wird uns als Gesellschaft nicht dorthin bringen, wo wir eigentlich hin wollen. Darum ist es wichtig, dass wir Begegnungsräume haben, an denen verschiedene Sichtweisen ausgetauscht werden können - Orte wie beispielsweise die geplante neue Bibliothek.

Vervollständigen Sie den Satz: «Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre ich heute ...»

… ebenfalls immer noch an sehr vielem interessiert. Ich bin mit Leidenschaft Musiker und hoffe sehr, dass ich diesen Beruf bis zur Pensionierung ausüben kann. Aber ich definiere mich nicht nur über das Musikerdasein. Ich habe das Glück, neben meiner Musik vielen anderen Interessen nachgehen zu können und in meinen verschiedenen Rollen als Familienmensch, Musikvermittler und Politiker immer wieder Spannendes zu erleben.

Während des Lockdowns stellten Mitglieder des Sinfonieorchesters St.Gallen ihr Instrument auf Youtube vor: Hier Karl Schimke mit der Tuba.

Video: Youtube

Wird die Pandemie die Kulturbranche längerfristig verändern – und sehen Sie darin auch etwas Positives?

Ich glaube schon, dass die Pandemie einen bleibenden Eindruck auf die Kulturbranche hinterlassen wird. Es gibt eine Flurbereinigung. Die Notbremse, die gezogen wurde, hat uns alle etwas verlangsamt, sie hat uns Zeit gegeben zum Reflektieren. Künstlerinnen und Künstler hatten plötzlich mehr Zeit, ihre Arbeit zu vertiefen, und das Publikum hatte Zeit zu überlegen, ob es wirklich das gemütliche Zuhause verlassen will, um etwas live zu hören oder zu sehen. Dieses Nachdenken führt hoffentlich dazu, dass die Kultur packender und existenzieller wird und dass das jeweils anwesende Publikum auch wirklich da sein möchte. Ich hoffe, dass die Menschen wieder entdecken, wie gut Livekultur tut!

Mit wem würden Sie gerne einmal zusammenarbeiten und warum?

Ich würde sehr gern mit dem Choreografen William Forsythe zusammenarbeiten. Sein Zugang zur Choreografie, seine Art, wie er absolut unpassende Bewegungen in klassische Abläufe packt, finde ich total faszinierend. Und seine Ausstellung «The Sense of Things» im Kunsthaus Zürich hat gezeigt, dass er weit über den Tanz hinausdenkt. Die Verwendung von Glocken hat mich sowieso begeistert, aber wie er den Klang und Raum erfahrbar machte, lässt mich vermuten, dass es überaus fruchtbar wäre, mit ihm zusammenzuspannen. Ich habe aber keine Ahnung, was dabei entstehen würde!

Eindrücke vom St.Galler Glockenkonzert, das Karl Schimke 2016 organisierte.

Video: Youtube

Worauf freuen Sie sich?

Darauf, in den drei kommenden Familienkonzerten wieder als Moderator und Vermittler auf der Bühne zu stehen: in «Abenteuer Orchester», «Erschallet, Trompeten!» und «Unterwegs mit Antonin». Alle drei hätten eigentlich schon in der vergangenen Saison stattfinden sollen und können jetzt endlich gespielt werden. Es ist tolle Musik, die Geschichten sind gut – alle drei sind auf ihre Art wunderbar!

Am 7. November moderiert Karl Schimke das Kinderkonzert «Abenteuer Orchester – Das Rätsel der Sphinx», in welchem sich die Instrumente des Orchesters zusammentun, um gemeinsam das grosse Rätsel der Sphinx zu lösen (10.30 Uhr, Tonhalle St.Gallen). – Das Brass-Konzert «Sonntags um 5» mit dem Motto «Street Song» findet am 16.1.2022 ebenfalls in der Tonhalle statt.

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