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Ob Pop-up-Bücher, Weltliteratur als Graphic Novel oder ein Nachschlagewerk mit über 800 Äpfel- und Birnensorten ‒ im St. Galler Kunstraum «Chambre directe Schubiger» sind aussergewöhnlich gestaltete Bücherserien ausgestellt. Unter ihnen auch Lieblingswerke des Künstlers Felix Boekamp und des Bibliothekars Joachim Bitter.
Der eine, Joachim Bitter, liebt die Kunst und arbeitet mit Büchern. Der andere, Felix Boekamp, ist Künstler und liebt die Literatur. Beide verliessen sie Hamburg um ihre jeweilige Leidenschaft im 800 Kilometer weit entfernten St.Gallen zu leben.
Gefunden haben sich die beiden dort, wo beides, Buch und Kunst, Rücken an Rücken stehen: In der St.Galler Kantonsbibliothek Vadiana. Schnell fiel ihnen eine Gemeinsamkeit über ihre Herkunft hinaus auf: Die Liebe zu schönen, aufwendig gestalteten Büchern. Joachim Bitter formuliert es so:
«Wir schätzen Buchkunst, die Kunstvolles als Instrument einsetzt, um mehr Inhalt zu vermitteln.»
Ihre Liebe zur Kunst und zu Büchern verwirklichen sie nun in der Ausstellung «Die Idee des Seriellen». Sie ist in Felix Boekamps Kunstraum «Chambre directe Schubiger» zu sehen.
Von 20 Bänden «Tim und Struppi» bis hin zur Naturkunde-Reihe des Mattesverlags, der Krähen, Esel und Fische in schmalen Bändchen ein Porträt widmet, ist alles vertreten. Die Werke stammen aus der Kantonsbibliothek Vadiana und dem St.Galler Zentrum für das Buch (ZAB) und wurden von deutschsprachigen, unabhängigen Verlagshäusern herausgegeben.
Boekamps persönlicher Favorit ist der Wälzer «Äpfel und Birnen». 649 Apfelsorten, 249 Birnensorten, versammelt in einem lexikalen Werk auf 483 Seiten. Ein Buch, das sich in die Reihe der aufwendig illustrierten «Nature Writing»-Werke einreiht. Das Buch für Biologen und Kunstliebhaber ist gleichzeitig eine märchenhafte Geschichte. Der bayrische Pastor Korbinian Aigner dokumentierte die Früchte mit einer Akribie und Hingabe, die ihm auch in einer Lebensphase half, in der bayrische Obstgärten unerreichbare Fantasien waren. Als Gegner der Nationalsozialisten wurde er im Dritten Reich inhaftiert und in das Dachauer Konzentrationslager deportiert. Er züchtete zwischen den Baracken Äpfel und gab ihnen die tragischen Namen KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4. Aigner überlebte das Lager und mit ihm die Liebe zur Obstkunde. Er arbeitete als Pastor sowie als wissenschaftlicher Zeichner von Apfelsorten bis zu seinem Tode weiter. Diese Liebe und Akribie überträgt sich auf den Leser.
Aus alten Tischen und umfunktionierten, bunt lackierten Dachlatten hat Felix Boekamp den Kunstwerken Podeste gebaut. Die Bücher sollen mit möglichst vielen Sinnen erlebt werden und nicht, wie auf anderen Buchausstellungen unzugänglich unter Panzerglas verschlossen bleiben. Die als Graphic Novel neu interpretierte «Traumnovelle» Arthur Schnitzlers beispielsweise teilt sich ein neongelbes Regal mit dem hochkontroversen Comic «Die Maus» von Art Spiegelmann.
Auch eine besondere Märchen-Serie gilt es hier in neuer Gestalt zu entdecken: In dreidimensionalen Scherenschnitten springt «Graf Dracula» aus dem Pop-up-Buch heraus. Man erlebt dieses Buch trotz bekanntem Inhalt. Ein kleine, ausgeschnittene Maus hier, eine ausgestanzte Rose dort. Die Liebe zum Detail überwältigt Leserinnen und Leser. So ging es auch dem Kurator Bitter:
«Wenn der Leser am Ende nicht mehr weiss: Ist das ein Kunstbuch? Ein Comic? Ein Geschichtsbuch mit Illustration? Dann ist das ein gutes Zeichen.»
Bitter und Boekamp haben die Ausstellung auch wie eine grosse Leseinsel konzipiert. Es gibt Sitzgelegenheiten, und wer sich gar nicht trennen kann, kann die Buchschätze auch nach der Ausstellung im Zentrum für das Buch ausleihen.
Zwischen den einzelnen Podesten hat Boekamp Inseln mit Kunstgras auf den Boden geklebt. Das weiche Gefühl unter den Füssen erinnert den Besucher daran: Das hier ist keine herkömmliche Buchausstellung, sondern eine Welt aus Bildern und Wörtern. Zweihundert Bildwörterwelten auf 80 Quadratmetern.
Chambre Directe – Schubiger, Rorschacherstrasse 112, 9000 St.Gallen.
Die Ausstellung «Die Idee des Seriellen » ist von 12 bis 20 Uhr geöffnet. Eine vorherige Anmeldung per E-Mail oder Telefon ist erforderlich. Ab dem 6. Mai ist zusätzlich donnerstags von 17 bis 20 Uhr ohne Voranmeldung geöffnet. Die Ausstellung läuft bis zum 13. Juni 2021.