BarockKonzert
«Die Ohren können trügen»: Wie Musiker sich beim Proben auf Distanz verständigen – auch ohne Dirigenten

Corona zwingt Musikerinnen und Musiker, sich neu aufeinander einzustellen und andere Wege der unmittelbaren Kommunikation zu finden: Wie anspruchsvoll das ist, zeigt eine Probe für Bachs Kantate «Ich habe genung» in der Kathedrale mit der Mezzosopranistin Margot Oitzinger. Das Werk ist Teil eines Livestream-Konzerts am Samstag.

Bettina Kugler
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Das Collegium Instrumentale der Dommusik probt mit der Mezzosopranistin Margot Oitzinger in der Kathedrale Bachs Kantate «Ich habe genung»: Bevor Feinarbeit möglich ist, muss erst einmal das Hören und Interagieren auf grosse Distanz funktionieren – eine Herausforderung.

Das Collegium Instrumentale der Dommusik probt mit der Mezzosopranistin Margot Oitzinger in der Kathedrale Bachs Kantate «Ich habe genung»: Bevor Feinarbeit möglich ist, muss erst einmal das Hören und Interagieren auf grosse Distanz funktionieren – eine Herausforderung.

Bild: Ralph Ribi

Ist es ein Stossseufzer? Ein seliges Aufatmen? Über die Worte des greisen Simeon, die Johann Sebastian Bach in der Eingangsarie der Kantate «Ich habe genung» so tief berührend in Musik gesetzt hat, kann man lange diskutieren. Da ist der Klageton der Oboe, die vor der Singstimme einsetzt und diese dann in reichen Verzierungen umspielt. Die sanfte Wellenbewegung der Streicher – je nach Tempo, Lautstärke und Akzentuierung wirkt sie drängend oder eher abgeklärt. Später die Koloraturen im Gesang: freudig bewegt, jedoch in Moll.

Der Affekt, die emotionale Tonlage der jeweiligen Kantatensätze, wird an diesem Abend in der Kathedrale immer wieder Thema sein und die Feinarbeit ebenso wie grundsätzliche Entscheidungen bestimmen. Es ist die erste Probe für das Barockkonzert am Samstag mit dem Collegium Instrumentale der Dommusik. Wie zuletzt Bachs «Weihnachtsoratorium» am Sonntag nach Dreikönig wird die Aufführung der Kantate BWV 82 und des Concerto g-Moll in der Fassung für Violine und Streicher vor leeren Reihen stattfinden und via Livestream zum Publikum kommen.

Jede Probe und jedes Projekt ist derzeit «fast ein Wunder»

Zu laut? Zu leise? Im Livestream ist das nicht das Hauptproblem. Wichtiger ist das exakte Zusammenspiel.

Zu laut? Zu leise? Im Livestream ist das nicht das Hauptproblem. Wichtiger ist das exakte Zusammenspiel.

Bild: Ralph Ribi

Nicht selbstverständlich in den Wochen der zweiten Coronawelle: Längst hat sich Michael Wersin als Musiker und künstlerischer Leiter der Barockkonzerte daran gewöhnt, dass die Dinge schon morgen anders sein können. Also empfindet er es «fast als Wunder», dass alle gesund sind, die Mezzosopranistin Margot Oitzinger nach St. Gallen kommen konnte, die Ensemblemitglieder in dieser Besetzung proben und spielen dürfen. Dass Livestream-Konzerte überhaupt möglich sind. Die Pandemie erteilt täglich Lektionen in Sachen Dankbarkeit und Demut. Die Unwägbarkeiten nimmt Wersin ebenso in Kauf wie die neuen Herausforderungen beim Musizieren.

Als ob der Klangraum Kathedrale nicht schon kompliziert genug wäre: prächtig fürs Auge, aber unberechenbar fürs Ohr. Was trägt, wie weit, wo geht der Klang hin, kommen die Stimmen synchron und in guter Balance zusammen? Hier kann Tonmeister Stefan Ritzenthaler helfen. Er ist vor Ort, um die Mikrofone einzurichten. Die Kathedrale kennt er unterdessen gut, so oft war er in den letzten Wochen und Monaten hier, auch für die Livestream-Gottesdienste.

Das Mischpult hilft – so ist die Klangbalance für einmal nicht das Hauptproblem

Anfangs sind ihm die Geigen zu leise; aus Gewohnheit nehmen sie sich zurück, damit die Singstimme gut zur Geltung kommt. Und steht nicht «sempre piano» in der Partitur? Auch Oboistin Kerstin Kramp hat Bedenken. «Gibt es Stellen, an denen ich Margot übertünche?», will sie wissen. Die beiden stehen mit etwa drei Meter Abstand nebeneinander. Wie sich der Klang im Raum mischt, ist nur schwer abzuschätzen. Ritzenthaler beruhigt: Im Livestream lässt sich das am Mischpult ausgleichen.

Wichtig ist erst einmal, dass sich die weit voneinander entfernt platzierten Musikerinnen und Musiker gegenseitig hören. Wobei Vorsicht geboten ist – die Ohren können bei solchen Distanzen trügen, der Klang der anderen kommt immer leicht verzögert an. Und einen Dirigenten gibt es nicht. Die Sängerin möchte ein zügiges, fliessendes Tempo mit weiten Bögen, ohne zu schwere Akzente. Der Rhythmus aber muss hörbar sein, es soll nichts verschwimmen.

Das A und O ist Blickkontakt

Michael Wersin leitet von der Truhenorgel aus, mehr als Einsätze kann er jedoch nicht geben. Für Absprachen nimmt er die Maske kurz ab, damit ihn alle gut verstehen.

Michael Wersin leitet von der Truhenorgel aus, mehr als Einsätze kann er jedoch nicht geben. Für Absprachen nimmt er die Maske kurz ab, damit ihn alle gut verstehen.

Bild: Ralph Ribi

Die Fäden laufen bei Michael Wersin zusammen, der vorn im Mittelgang an der Truhenorgel sitzt, in Blickkontakt mit allen - mehr aber auch nicht. Die Hände haben auf dem Manual zu tun. «Wir in der Bassgruppe finden uns vor allem durch Spielerfahrung», sagt Wersin:

«Wir kennen uns lange und so gut, dass es auch auf Distanz funktioniert. Weil man ahnt, was die Kollegin gleich machen wird.»
Der Bogen von Cellistin Bettina Messerschmidt ist für die Bassgruppe eine Art Kompass: Sichtkontakt ist auf Distanz sicherer als das Gehör.

Der Bogen von Cellistin Bettina Messerschmidt ist für die Bassgruppe eine Art Kompass: Sichtkontakt ist auf Distanz sicherer als das Gehör.

Bild: Ralph Ribi

Konkret heisst es: Er schaut Cellistin Bettina Messerschmidt auf den Bogen und zieht die richtigen Schlüsse. Mit Andrea Cordula Baur am Chitarrone ist er gewohnt, den Generalbass zu improvisieren – das allerdings ist fast unmöglich, wenn sie so weit weg sitzt. Ihre gezupfte Saiten sind zart und leise.

Es sei schon anspruchsvoll, als Bassgruppe die fehlende Nähe auszugleichen und zusammenzufinden, sagt Bettina Messerschmidt. Noch schwieriger sei es aber für die anderen, sie richtig zu hören und entsprechend zu agieren. Das Proben braucht mehr Zeit als sonst, Geduld, starke Nerven – und Flexibilität. Fähigkeiten, die das Virus allen abfordert und antrainiert, seit Monaten. Und ja, auch das schwingt mit als Subtext der Arie «Ich habe genung», wehmütig, dankbar und glaubensstark zugleich.

Samstag, 23. Januar, 19.15 Uhr, kostenloser Livestream auf bistumsg-live.ch. Auch das Dreikönigskonzert mit Bachs «Weihnachtsoratorium» ist weiterhin nachhörbar auf der angegebenen Website des Bistums St. Gallen.