Norwegische Literatur: von langen Wintern und dunklen Gedanken

Norwegen ist Ehrengast an der Frankfurter Buchmesse. Die Literatur bietet mehr als Krimis, wie ein Besuch bei der Skandinavistik zeigt.

Kelly Spielmann
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Skandinavistikprofessor Klaus Müller-Wille und Norwegischlektorin Elisabeth Petersen. Bild: Severin Bigler (2. Oktober 2019)

Skandinavistikprofessor Klaus Müller-Wille und Norwegischlektorin Elisabeth Petersen. Bild: Severin Bigler (2. Oktober 2019)

Denkt man an norwegische Literatur, fällt den meisten wohl ein bestimmtes Genre ein: der Krimi. Krimiautoren wie Jo Nesbø finden sich denn auch in den Buchhandlungen der Schweiz in den Bestsellerregalen. «Die Norweger können wirklich gute Krimis schreiben», bestätigt Elisabeth Petersen. «Aber die norwegische Literatur ist um einiges vielfältiger», schiebt Klaus Müller-Wille nach.

Die beiden wissen, wovon sie sprechen: Müller-Wille ist Professor für nordische Philologie an der Universität Zürich, Petersen ist Norwegischlektorin an den Universitäten Zürich und Basel. Sie stecken zurzeit mitten in den Vorbereitungen für die Veranstaltungen, die sie im Rahmen der Frankfurter Buchmesse organisieren – beispielsweise die Tagesexkursion nach Frankfurt mit den Studierenden. Norwegen, das schon drei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht hat, ist dieses Jahr der Ehrengast der Messe, die vom 16. bis zum 20. Oktober dauert.

Dass das Land als Ehrengast an der Frankfurter Buchmesse auftritt, ist für Müller-Wille und Petersen nicht überraschend. «Es war höchste Zeit», sagen sie zeitgleich und lachen. Denn im deutschsprachigen Raum verkaufen sich norwegische Bücher gut. So war beispielsweise 2017 Maja Lundes «Die Geschichte der Bienen» das erfolgreichste Buch Deutschlands.

«In den letzten Monaten hatten die Übersetzer aber besonders viel zu tun»

, sagt Petersen und lacht, seine orangefarbenen Locken hüpfen. Im Vorfeld der Buchmesse wurden mehr Bücher als üblich ins Deutsche übersetzt.

Schreiben als Stimme im Kampf um die Unabhängigkeit

Der Erfolg liege an den Eigenheiten der norwegischen Literatur, sagt Petersen. «Während Norweger generell als eher kühl und distanziert gelten, zeigen sie in der Literatur das Gegenteil», erklärt sie. So seien die seelischen Tiefen des Menschen ein wiederkehrendes Thema. Wie die Bilder des norwegischen Malers Edvard Munch, fügt Müller-Wille an: Düster, tiefsinnig, emotional.

Buchtipps der Skandinavien-Experten

Henrik Wergeland: Im wilden Paradies «Ein absoluter Klassiker, der bei uns leider unbekannt ist», sagt Müller-Wille. Der Gedicht- und Prosaband ist vor der Messe neu erschienen.
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Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss Als «modernistisch und experimentierfreudig» bezeichnet Klaus Müller-Wille den norwegischen Klassiker aus dem Jahr 1963.
Roy Jacobson: Die Unsichtbaren Elisabeth Petersen schwärmt von der «wunderschönen Sprache» des Romans. Die Inselsaga spielt im frühen 20. Jahrhundert.
Erlend Loe: Doppler Wegen der einfachen Sprache ist das Buch für Norwegischlernende geeignet. «Es ist unglaublich spannend und lustig», sagt Petersen.
Hanne Ørstavik: Die Zeit, die es dauert Den Roman empfehlen Müller-Wille und Petersen beide. Das Buch schliesst nach «Liebe» und «So wahr, wie ich wirklich bin» eine Trilogie ab.

Henrik Wergeland: Im wilden Paradies
«Ein absoluter Klassiker, der bei uns leider unbekannt ist», sagt Müller-Wille. Der Gedicht- und Prosaband ist vor der Messe neu erschienen.

Das zeige sich bereits in den Anfängen der langen literarischen Tradition der Norweger, sie gehe aus der Geschichte des Landes hervor. «Lange hatten die Norweger keine Selbstständigkeit», so Petersen. Denn das Land befand sich während 400 Jahren in einer Union mit Dänemark, danach während knapp 100 Jahren mit Schweden. «Sie haben das Schreiben als Stimme benutzt», sagt Petersen.

Mit dem Ende der Union sind Klassiker wie Henrik Ibsen oder Knut Hamsun aufgekommen. Sie haben das Interesse für das Unbewusste und das Seelenleben vorangetrieben, das bis heute nachwirkt.

Leidenschaft für Sprache trägt zum Erfolg bei

Doch die norwegische Literatur lebt nicht nur von den Tiefen des menschlichen Unterbewusstseins. Auch die Sprache ist ein tragender Grund des Erfolgs. Die Leidenschaft zur und das Bewusstsein für die Sprache sei stets gross gewesen, besonders im Kampf um die Unabhängigkeit, so Müller-Wille. Es gibt sogar zwei Schriftsprachen: einerseits Bokmål, das von der dänischen Sprache inspiriert ist, sowie Nynorsk, auch Neunorwegisch genannt. Entwickelt vom Sprachwissenschafter Ivar Aasen, ist sie eine Mischung aus norwegischen Dialekten.

Ob in Bokmål oder Nynorsk – weil es Pflichtfächer sind, beherrschen die Norweger beide Sprachen –, gelesen wird im skandinavischen Land viel. Der Durchschnitt liegt bei jährlich 15 Büchern pro Kopf. «Ich denke, da sind wir Norweger euch Schweizern sehr ähnlich», meint Petersen. «Wir sind viel in der Natur, wandern oder fahren Ski. Als Ausgleich tut das Lesen einfach gut.»

Im Winterhalbjahr, wenn es 24 Stunden dunkel ist und man mehr Zeit zu Hause verbringt, sei es ebenfalls eine gute Beschäftigung. In der dunklen Wintersaison sieht die junge Norwegerin denn auch den Grund, weshalb es so viele norwegische Krimis gibt. «Bei all der Dunkelheit kommt man eben auf dunkle Gedanken», sagt sie und lacht. So, dass dunkle Gedanken kaum möglich scheinen.

Veranstaltungen in der Schweiz

Zofinger Literaturtage mit Schwerpunkt Norwegen, 25. bis 27. Oktober;

Sensible Literatur und aufregender Jazz aus Norwegen, 5. November, 18.30 Uhr, Universität Zürich.