Coldplay muss niemandem mehr etwas beweisen. Auf ihrem achten Studioalbum «Everyday Life» überzeugt die Band mit zärtlichen und zuversichtlichen Liedern.
Es wirkte geradezu rührend altmodisch, wie Coldplay neulich ihr achtes Album ankündigten, das «Everyday Life» heisst und zusammengesetzt aus zwei eigenständigen Hälften – «Sunrise» und «Sunset» betitelt – ein grosses Ganzes ergibt. Erst liessen sie ziemlich kryptische Vintage-Poster an den U-Bahn-Haltestellen mehrerer Metropolen in aller Welt anbringen, dann schickten sie handgeschriebene Briefe an die Fanclub-Mitglieder, und schliesslich veröffentlichten die vier mittlerweile alle über 40-Jährigen die Namen der Songs in den Kleinanzeigenteilen zahlreicher Lokalzeitungen.
Keine Frage: 23 Jahre nach Bandgründung am University College London und 19 Jahre nach Veröffentlichung des Debütalbums «Parachutes», mit dem sie sogleich die Herzen von Millionen von Liebhabern melancholischer Mehr-oder-weniger-Indie-Pop-Musik eroberten, können Chris Martin, Jonny Buckland, Guy Berryman und Will Champion tun und lassen, was sie wollen. Und von diesem Privileg macht Grossbritanniens erfolgreichste Band der letzten zwei Jahrzehnte üppig Gebrauch. Freigestrampelt von allen Zwängen legen sie ein bemerkenswertes, 53 Minuten und 16 Songs langes Doppelalbum vor, auf dem wirklich die Kunst, und nicht der Hit, im Vordergrund steht.
«Man tut uns kein Unrecht, wenn man uns als Weltbürger bezeichnet», sagte Frontmann Chris Martin, 42, jüngst im Radio-Interview mit der BBC, «und ganz gleich, wo ich auf der Welt bin, lasse ich mich immer von meiner Umgebung inspirieren und nehme alles, was mir gefällt und was mich bewegt, mit dem Handy auf.» Auf diese Weise haben viele Rhythmen, Einflüsse und klangliche Fragmente Einzug in die Songs gehalten, die man auf dem Werk einer Band, die im Ruf steht, absolut mehrheitsfähige Mainstreammusik zu machen, eher nicht erwartet.
Man tut uns kein Unrecht, wenn man uns als Weltbürger bezeichnet
(Quelle: Coldplay-Frontmann Chris Martin)
Etwa auf «Arabesque», einer der vorab veröffentlichten Singles. Der belgische Rapper und Electro-Musiker Stromae ist auf der Nummer (in französischer Sprache) zu hören, ausserdem, so Martin stolz, «sind drei Generationen von Kuti-Männern dabei». Von der nigerianischen World-Music-Legende Fela Kuti stammt der gesampelte Satz «Music is the Weapon of the Future», dessen Sohn Fema Kuti spielt Trompete, und auch Femas Sohn Made Kuti ist mit von der Partie.
Im Vergleich zugänglicher und konventioneller wirkt «Orphans», das von den Freuden des Heimkommens und des Trinkens mit Freunden (wie gesagt, Chris Martin war lange auf Tour) handelt und mit seinem «Uhhuhhh» gar nicht mal so dezent an «Sympathy for the Devil» von den Rolling Stones erinnert. «Der Song handelt vom Menschsein als solchem», so Martin. «Jeder einzelne Tag ist ein Triumph und ein Desaster, ein Segen und ein Fluch.»
Das ganze Album kommt von Aufbau und Spannungsbogen einem Gottesdienst recht nah. Nach der Auftakt-Orgel von «Sunrise» folgt sogleich «Church», eine erbauliche und feierliche Hymne mit im Verlauf leicht orientalischer Note. Im Anschluss erinnert «Trouble In Town» erst an Peter Gabriel, bevor das Stück unter Jazz-Einfluss den Originaltonmitschnitt eines brutalen, rassistischen US-Polizeieinsatzes liefert – für so eine freundliche, höfliche und zurückhaltende Band ist das schon heftig und sicher der harscheste Moment auf dem Album.
Jene offensichtlichen, von manch einem als aufdringlich empfundenen Hits, findet man auf «Everyday Life» nicht, dafür Experimente mit moderner Klassik («Bani Adam»), Stücke, die wie Demo-Aufnahmen klingen («WOTW/ POTP»), oder Folk mit akustischer Gitarre («Old Friends»). Auf «Cry Cry Cry», einem Song inspiriert von Motown-Soul, singt Chris Martin im Falsett, und selbst das komplexe «Champion Of The World» ist nicht die Stadionhymne, die der Titel suggeriert.
Laut Chris Martin sei «Everyday Life» auch eine Reaktion auf die «von vielen so empfundene Negativität in der Welt». «Ja, es gibt Probleme, aber es gibt noch viel mehr Grossartiges und Positives. Überall um uns herum ist Leben, überall passieren tolle Dinge», sagt der Musiker. Coldplay, so die Botschaft dieser neuen Lieder, glauben – ganz ohne Sarkasmus und ohne Ironie – an die Kraft positiver Gedanken und guter Gefühle. Und so heben sie sich den Höhepunkt für den Schluss auf.
Ganz bei sich und vom Stil her so wie in der Anfangsphase klingen Coldplay im das Album beendenden Titelsong. «Everyday Life» ist eine ruhige, schlichte, sich im Verlauf erhebende Pianoballade mit dem Refrain «Cause everyone hurts/ Everyone cries/ Everyone tells each other all kinds of lies». Martin sagt dazu: «Ich bin kein wütender Mensch. Im Gegenteil, ich habe in den letzten Jahren meinen Frieden gemacht. Ich halte Einstellungen und Haltungen aus, mit denen ich persönlich nicht übereinstimme.» Aber genauso wenig habe er Angst, sich zu seinen eigenen Gefühlen zu bekennen.
Auf Tournee gehen will die Band mit den neuen Liedern vorerst nicht, wie jetzt bekannt wurde. Der Grund: Zu klimaschädlich.