Nach ihrem Bestseller «Die Bagage» setzt Monika Helfer die literarische Familienrecherche fort. Nun steht der stille Vater im Mittelpunkt.
Wahr oder erfunden? Die Frage stellte sich schon bei der Spurensuche für «Die Bagage» – jenen Roman, mit dem der Vorarlberger Autorin Monika Helfer im Frühjahr 2020 ein überraschender Bestsellererfolg gelang. In reifem Alter, notabene. Geboren 1947 im Dorf Au im Bregenzer Wald, galt die Autorin lang als literarischer Geheimtipp, vor allem aber als Ehefrau des Schriftstellers Michael Köhlmeier.
Dabei hat sie nie etwas anderes getan, als Buch um Buch zu schreiben – Erzählungen, Romane, Kinderbücher, auch Texte fürs Theater. Es fällt ihr leicht, sie lebt zurückgezogen in ihrer Bücher- und Erinnerungshöhle im Städtchen Hohenems, nahe der Schweizer Grenze. Einem Haus voller Geschichten, Krimskrams, Fotos und kleinen Dingen, die diskret Geheimnisse bewahren, den reichen Seelenkosmos Monika Helfers bilden.
Sie schreibt, wie sie redet: nicht geradeaus, eher bedächtig, aber immer mit Gewicht. Und wenn sie merkt, dass es erst die halbe Wahrheit ist, dann fasst sie eben nach. Den Weg zum Schreibtisch findet sie jeden Morgen ohne Mühe, auch ohne eiserne Selbstdisziplin. «Ich muss nicht erst lange Bleistifte spitzen, bis ich dann endlich anfange», sagt sie.
Ihre Sätze spitzt sie schliesslich doch, sie dreht und wendet sie und streicht, was ihnen Kraft nimmt. So sind ihre Bücher nicht dickleibig, ausschweifend und mit grossem dramaturgischen Bogen fabuliert wie jene ihres Mannes. Sondern präzis aufs Wesentliche reduziert.
Trotzdem lauert hinter fast jedem Satz eine Geschichte, die ebenfalls einen Roman wert wäre. Auch in «Vati» ist das so, dem zweiten Buch, das sie «für meine Bagage» geschrieben hat.
Ihre Herkunftsfamilie spielte viele Jahre lang keine auffällige Rolle im Werk von Monika Helfer. «Bagage», so wurden die Moosbruggers geschmäht im Dorf. Bei Monika Helfer klingt die Beschimpfung eher zärtlich: Für sie sind es die Menschen, an deren Geschicken sie Anteil nimmt und über die sie immer schon gern mehr gewusst hätte. Sie mussten aber erst in Frieden ruhen, bevor die Enkelin, die Tochter, Nichte und Schwester beginnen konnte, ihre Geschichten aufzuschreiben.
Dass ausgerechnet die familiäre «Bagage» ihr den Stoff ihres Lebens vor die Füsse gestellt hat wie ein paar vollgestopfte Überseekoffer, passt zu den Zufällen und Fügungen, von denen auch der neue Roman in Fülle erzählt: so lückenhaft, so anekdotisch und in behutsamer Annäherung wie bereits «Die Bagage». Zudem klug komponiert, was sich jedoch nicht vordergründig zeigt. Monika Helfer hat «Vati» nicht eilends nachgeschoben, sondern einfach weitergeschrieben, als das Manuskript zu «Die Bagage» abgeschlossen war.
Zu viele Geschichten hatte sie übrig, zu viele Figuren warteten nach einem kurzen Auftritt noch darauf, näher betrachtet zu werden. Es hätte auch Grete sein können, ihre Mutter: Das Kind, von dem in «Die Bagage» oft die Rede ist; das Mädchen, das mitten im Ersten Weltkrieg geboren und vom Vater gemieden wird. Kein Wort, keine Berührung hat er für sie übrig, weil er sie für das Kind eines anderen hält. Grete wird früh sterben, ihre eigenen Kinder werden da und dort unterkommen, in sehr bescheidenen Nachkriegsverhältnissen aufwachsen: Davon erzählt Monika Helfer in «Vati». In den Mittelpunkt, wenn es denn einen gibt, rückt Gretes Mann.
Wahr und erfunden, beides mischt sich, daraus macht Monika Helfer keinen Hehl. Der Vater selbst erfindet sich; er verschweigt Dinge, bleibt bis zu seinem Tod – dessen Umstände man fast nicht glauben kann, so sinnbildlich verschlingen sie den rätselhaften Mann – nicht fassbar: «Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen wäre.»
Wenig und viel sagt die Erzählerin damit gleich zu Beginn über den Mann, der sich auf Bücher stürzte, sie mit inniger Zuneigung, fast schon Besessenheit sammelte und hortete. Dem als Kind höhere Bildung versagt blieb, der aus dem Krieg mit einer Beinprothese heimkam – und einer Frau, der Grete. Sinnlich lässt Helfer das Paradies ihrer Kindheit aufscheinen, die Zeit, als der Vater Verwalter eines Kriegsopfer-Erholungsheimes war: Man ahnt, dass es ein fragiles Idyll ist. Und wird doch immer wieder überrascht von der Wucht der Ereignisse, die sich so leichthin mit den Geschichten der anderen mischen.
Monika Helfer: Vati. Roman. Hanser Verlag, 176 Seiten.