Neue Ideen
Einen solchen Festivalsommer gab es noch nie

Mitte August beginnen mehrere grosse Festivals. Die Vorfreude ist gross, doch die finanzielle Situation bleibt angespannt. Corona wird die Konzertlandschaft verändern. Weit über 2021 hinaus.

Stefan Künzli
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Heitere Openair 2019.

Heitere Openair 2019.

Dominik Wunderli

Festival um Festival, Open Air um Open Air wurden Anfang Jahr aufgrund der Coronapandemie abgesagt. Die bundesrätlichen Erleichterungen und Öffnungsschritte kamen für die Juni-Open-Airs zu spät, und auch die meisten Juli-Festivals wurden gekippt. Gerettet werden konnten nur das Jazz Festival Montreux und das Festival da Jazz St.Moritz, weil sie beide schon früh auf Lightversionen umgeschaltet hatten. Doch jetzt kommt er doch noch, der Festivalsommer. Und sogar in geballter Ladung. Zwischen Mitte August und Mitte September finden immerhin neun Festivals mit nationaler Ausstrahlung statt.

Die Pandemie-Situation ist nach wie vor labil und unsicher, die Ansteckungszahlen sind trotz Impfaktion nicht rückläufig. Kann es sein, dass der Festivalsommer doch noch abgesagt wird, bevor er so richtig beginnen kann? «Ein paar Wochen sind in einer Pandemie eine lange Zeit», sagt Christoph Bill, der Verbandspräsident der grossen Veranstalter (SMPA). Einschränkungen oder sogar Absagen aufgrund der epidemiologischen Lage seien jederzeit möglich. «Das war von Anfang an klar und sind wir eingegangen», sagt Bill. Und doch bleibt er zuversichtlich. Der Anteil der Genesenen und Geimpften steige ja laufend. Für ihn gibt es aktuell keine Grundlage mehr für erneute Einschränkungen. Positiv stimmt ihn auch, dass der Bundesrat keine Konsultation zu angepassten Massnahmen gestartet hat. Es sollte also klappen.

Christoph Bill, Gesamtleiter des Heitere Open Air.

Christoph Bill, Gesamtleiter des Heitere Open Air.

Dominik Wunderli

Für das Open Air Zürich war das finanzielle Risiko zu gross

Klar ist: Ohne Zertifikat oder negative Tests geht nichts. Die Festivals in Montreux und St.Moritz im Juli haben bewiesen, dass Festivals unter eingeschränkten Vorzeichen und strengen Sicherheitsvorkehrungen möglich sind. Trotzdem hat Willisau letzte Woche sein schon fixfertig programmiertes Jazzfestival noch abgesagt. Die Vorgaben würden das Festivalerlebnis, das Willisau auszeichnet, zu stark einschränken, hiess es.

Unsicher bleibt die Situation aber auch aufgrund der Reiseeinschränkungen. Das Zürich Open Air hat an diesem Wochenende sein ohnehin reduziertes Festival nun definitiv abgesagt, weil mehrere Hauptacts ihre Tourneen wegen Reisebestimmungen gestrichen hätten. «Das finanzielle Risiko ist für uns zu gross geworden», liess die Festivalleitung mitteilen. Um welche Acts es sich dabei handelt, wollte der Veranstalter auf Anfrage nicht verraten. Aber es ist relativ naheliegend, dass es sich dabei um ausländische Hauptacts wie Rag’n’Bone Man oder London Grammar handeln dürfte. «Manche englische Acts bleiben lieber zuhause, als das Risiko einer Quarantäne in Kauf zu nehmen», sagt Christoph Bill, der diese Erfahrung auch als Veranstalter der Heitere Events in Zofingen gemacht hat.

Zurich Openair 2019.

Zurich Openair 2019.

Keystone

Das hat natürlich grosse Auswirkungen auf die Programmierung. Amerikanische und englische Musikerinnen und Musiker sind in diesem Festivalsommer Mangelware. Stattdessen dominieren deutsche und Schweizer Acts. Patent Ochsner, Hecht, Lo & Leduc und Kunz treten in diesem Sommer so oft auf, dass die Gefahr einer Übersättigung besteht. Christoph Bill spricht auch von einer «Gefahr der Austauschbarkeit von Events». Die Exklusivität schwindet. Popstars, die nur für ein einziges Schweizer Konzert gebucht wurden, können in diesem Jahr an einer Hand abgezählt werden.

Programm: Es besteht die Gefahr der Austauschbarkeit

Das Publikum entscheidet. Wie gross ist der Nachholbedarf der Musikfans? Wie gross der Durst nach Livemusik? Gemäss einer aktuellen Studien der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ist die Schweizer Bevölkerung trotz Corona hungrig auf Liveevents, insbesondere auf Konzerte und Musikfestivals. Doch sind die Programme dieses Festivalsommers attraktiv genug, um die Leute aus der Stube vor die Bühnen zu locken?

Christoph Bill ist skeptisch und sieht noch keinen grossen «Run» auf die Festivaltickets. «Die Leute haben angesichts der Ereignisse eine Zurückhaltung entwickelt und warten erst einmal noch ab», sagt er und glaubt, dass das Nachholbedürfnis erst gestillt wird, wenn die Pandemie wirklich überstanden ist. Bill glaubt aber an die Attraktivität des Festivalsommers, an die Zugkraft der Musik. «Das Erlebnis mit Gleichgesinnten unter freiem Himmel, mitreissende Livemusik in toller Atmosphäre werden die Herzen aller Generationen wiedererobern», sagt er überzeugt.

Jazz Festival Willisau 2017.

Jazz Festival Willisau 2017.

Marcel Meier

Die grosse Frage lautet, ob und wie die Coronakrise die Schweizer Festivallandschaft über die Pandemie hinaus verändern wird. «Wir glauben nicht, dass die Festivalszene mit einem Fingerschnippen wieder sein wird wie vor der Pandemie», sagt Mathieu Jaton, der Leiter des Montreux Jazz Festivals, gegenüber CH Media. Dank der staatlichen Ausfallentschädigungen hat bis heute zwar noch kein Festival wegen Corona aufgeben müssen. Aber auch Bill ist überzeugt, dass die Pandemie «noch Spuren hinterlassen wird».

«Die Situation ist weiterhin sehr angespannt», sagt er und kann deshalb nicht ausschliessen, dass das eine oder andere Festival noch aufgeben muss. «Die Unterstützungen reichen in vielen Fällen nicht aus, um den Status quo zu erhalten», sagt er. Die wahren Auswirkungen würden «erst später sichtbar werden».

«Bereits 2022 dürfte es deutlich schwieriger werden, weil auf die Festivals eine wahre Flut von nachzuholenden und neuen Veranstaltungen zukommt, für welche keine neuen Einnahmen kommen oder die zuerst noch verkauft werden müssen», sagt er weiter. Bei reduzierten Kapazitäten, gesteigerten Anforderungen und Auflagen nimmt die finanzielle Belastung auf jeden Fall nochmals zu. Gleichzeitig ist noch nicht abzusehen, ob und wie hoch die Musikfestivals noch finanziell unterstützt würden.

Montreux Jazz Festival Direktor Mathieu Jaton.

Montreux Jazz Festival Direktor Mathieu Jaton.

Laurent Gillieron / KEYSTONE

«Die Krise hat uns erlaubt, neue Formate, neue Ideen zu testen», sagt Jaton. Das Jazzfestival in Montreux hat eine Seebühne im Genfersee gebaut. Das Festival da Jazz in St.Moritz neue Lokalitäten getestet. Die Heitere Events haben parallel zum Festival ein virtuelles Festival mit revolutionären Möglichkeiten zur Interaktion lanciert. Das Festival in Cully hat sein Programm auf zwei Wochenenden verteilt, die Bühnen und die Kapazitäten wurden generell verkleinert: «Small is beautiful», «Reduce to the Max», «klein, aber oho» lauten die Parolen für den diesjährigen Festivalsommer.

Wird der Trend zur Grösse gebrochen?

Ist «Klein» das neue «Gross»? Bill zweifelt daran und glaubt nicht, dass in der Schweizer Festivalszene künftig der Trend zur Grösse gebrochen ist. Das Kleine habe zwar durchaus seinen Charme, letztlich müsse die Rechnung «unter dem Strich für alle Beteiligten irgendwie aufgehen». Bei vielen Veranstaltungen brauche es einfach eine Mindestgrösse, um die Grundkosten zu decken. Und weil weder die Sponsoringeinnahmen noch die Ticketpreise beliebig erhöht werden könnten, dürfte es gemäss Bill bei einer «Koexistenz von klein, mittel und grossen Veranstaltungen, passend zu Inhalt, Location, Jahreszeit, bleiben».

Der Konzentrationsprozess geht weiter

Eine generelle Übersättigung wird schon seit geraumer Zeit beklagt. Die Luft ist dünn, das Fuder überladen. Die schon lang erwartete Strukturbereinigung ist in nächster Zeit nicht auszuschliessen. Aber eigentlich ist die Bereinigung über einen Konzentrationsprozess ja längst im Gang. Dabei ist es nicht nur der amerikanische Veranstaltungsriese «Live Nation», der sich Festival um Festival krallt. Neustes Kapitel des Konzentrationsprozesses ist die Zusammenarbeit des Summerdays Festival Arbon, des Seaside Festival Spiez, der Blausee Konzerte, des Weihern Open Air St.Gallen und der ­Unique-Moments-Konzertreihe im Landesmuseum Zürich unter dem Dach der mächtigen Schweizer Gadget abc Entertainment Group. Geopfert wird dadurch nicht nur programmatische Unabhängigkeit, sondern vor allem musikalische Vielfalt.