Der Aargauer Urs Bitterli, der mit seinem Buch «Die ‹Wilden› und die ‹Zivilisierten›» eine grossartige «Synthese» der Epoche lieferte, in der die Europäer den Rest der West «entdeckten», ist gestorben. Er wurde 85 Jahre alt.
Der Historiker soll sich streng an Tacitus halten und «sine ira et studio» (ohne Zorn und Leidenschaft) über vergangenes Geschehen berichten. Was der altrömische Geschichtsschreiber allerdings damit gemeint haben will, ist weniger klar, als es die schöne Formel vermuten lässt. Am wahrscheinlichsten ist es, dass er damit dem Leser versichern wollte, dass er keinen Mächtigen schmeicheln wolle. Denn wenn er eine neutrale Warte, die der Historiker einnehmen sollte, gemeint hat, dann hat er sich selbst überhaupt nicht daran gehalten.
Den eigenen Standpunkt, besonders wenn alle möglichen Leidenschaften hinter ihm stehen, aus der historischen Darstellung draussen zu halten, darin sind sich die Geschichtsschreiber einigermassen einig.
In seinem Hauptwerk «Die ‹Wilden› und die ‹Zivilisierten›» (1975, 1995) stand Urs Bitterli vor einem ähnlichen Problem. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Epoche der «Dekolonialisierung». Und im Moment, als er sich anschickte, den Beginn der Kolonialisierung historisch einzuordnen, waren noch längst nicht alle Verletzungen geheilt und Schäden beglichen, welche die Europäer in der sogenannten «Neuen Welt» angerichtet hatten. Er beschrieb das Problem so: «. . . sieht sich der Geschichtsschreiber bei der Sichtung und Wertung von Tatbeständen beständig zwei gegensätzlichen Gefahren ausgesetzt: der Selbstbezichtigung und der Selbstrechtfertigung.»
In dieser «Epoche der Kolonisation» wurde der Begriff «welthistorisch» überhaupt erst bedeutsam. Urs Bitterli nahm sich eine «Synthese» vor. Und wenn man auch diesen Begriff ernst nimmt, muss einem solchen Versuch eine weitausgreifende Reflexion vorangegangen sein. Und diese zeigt sich in der Interpretation, dass es dem Verfasser gelungen ist, die Darstellung an den beiden erwähnten Gefahren vorbei zu steuern; und ganz prosaisch, dass da eine Materialsichtung von ungeheurem Ausmass unternommen worden sein muss. Bitterli hat sie geleistet und er beherrscht den Stoff – nicht umgekehrt.Der Punkt scheint erreicht, wo «Fleiss» der Leistung nicht mehr gerecht wird, sondern der Ausdruck «Schaffenskraft» am Platz ist.
«Die ‹Wilden› und die ‹Zivilisierten›» war nicht das einzige Buch, das aus dieser Materialfülle entstand, aber es war das ambitionierteste. Und es war eines, das in der Geschichtswissenschaft seinen Rang behalten dürfte.
Das «persönlichste» Buch von Urs Bitterli ist die Beschäftigung mit der Persönlichkeit von Jean Rudolf von Salis. Er geht dort nicht nur aus von der Erinnerung an die berühmten Radiovorträge, sondern streut immer wieder Reminiszenzen und eigene Beobachtungen ein. Die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft muss den Jung-Promovierten schon früh beschäftigt haben. Von Davos aus, wo er seine erste Stelle als Gymnasiallehrer bekleidete, schrieb er an den berühmten Schlossherrn von Brunegg – und erhielt eine Antwort. Von Salis tadelte «die Haltung des Resignierens», die er an Urs Bitterli und dessen Kollegen spürte. Und brachte die schöne Metapher: «Wenn es geht, soll man wie ein Banderillero dem Stier ein Fähnchen ins Fleisch stecken.»
Dass Urs Bitterli solches einmal getan hätte, ist mir nicht bekannt. Aber er bewunderte von Salis für dessen «politisches» Engagement, ohne dass er ein Politiker gewesen wäre. «Geschichte und Politik in ihrer Wechselwirkung zu verstehen und damit die staatsbürgerliche Dimension des Historikers sichtbar zu machen», das fand Urs Bitterli bei ihm «von einzigartiger Qualität». Nicht ohne zu tadeln, dass der berühmte Historiker sich rückblickend vor allem der Promis erinnerte, denen er begegnet war. Die «einfachen Leute», zu denen von Salis offenbar auch den Schriftsteller Joseph Roth zählte, den er in Paris getroffen haben musste, fanden keine Beachtung.
Darin unterschied sich der sich stets seiner Bodenständigkeit versichernde Urs Bitterli vom Kollegen. Auch wenn er offenbar eine enttäuschende Erfahrung mit ihm geteilt hat. Auch bei von Salis klappte es nicht auf Anhieb mit der akademischen Karriere. Es fehlte ihm der einflussreiche Protektor, ohne den es schwer war, auf einen Lehrstuhl berufen zu werden. Von Salis beklagte sich und Urs Bitterli schreibt: «Gerne würde ich dem widersprechen», aber eigene Erfahrung würde es schwer machen, solchen Widerspruch zu formulieren.
Urs Bitterli hatte am Seminar Wettingen das Lehrerpatent gemacht und danach auch Schule gehalten, bevor er das Studium aufnahm. Habilitiert hatte er 1970, aber erst 1978 wurde er ausserordentlicher Professor. Ordentlicher Professor wurde er gar erst 1995. So wirkte er lange als Lehrer für Deutsch und Geschichte an der Kantonsschule Zelgli in Aarau. Er erweckte nie den Anschein, dass er das nicht gerne tun würde. Aber eine leise Enttäuschung spürte man.
Als Gymnasiallehrer gehörte er zweifellos noch zur «alten Schule». Aber die Schülerinnen und Schüler kamen gut mit dem Frontalunterricht zurecht, weil Urs Bitterli ein begnadeter Erzähler war. Von grosser Belesenheit, ohne ein grosses Wesen daraus zu machen, war er ein feiner Kollege, humorvoll und keineswegs «von oben herab». Den Kontakt pflegte er gerne mit Kunst-Postkarten mit kurzen Bemerkungen. Als es mit der Handschrift schwierig wurde, spannte er sie gar in die Schreibmaschine.