Zum dritten Todestag der St. Galler Lyrikerin und Musikerin Ursula Riklin-Lorenz ist im Wallstein-Verlag, Göttingen, je ein Bändchen Lyrik und Erzählungen erschienen. Morgen gibt es eine Lesung.
Fast auf den Tag genau drei Jahre sind vergangen, seit die St. Galler Lyrikerin und Schriftstellerin Ursula Riklin im Alter von 77 Jahren verstorben ist. Vieles hätte sie noch ausschreiben, manches Musikstück nochmals spielen wollen. Die vollen Schubladen voller unveröffentlichter Texte ordnete fürs erste deren Ehemann Alois Riklin. Das war vermutlich kein Pappenstiel.
Ursula Riklin hatte schon als Kind, als Jugendliche zu schreiben begonnen, hatte später in Anthologien und Zeitschriften Lyrik und Prosa veröffentlicht. Wie sie das neben ihren sechs Kindern, darunter zwei Zwillingspärchen, und neben ihrem als Professor der Politikwissenschaft vielbeschäftigten Gatten schaffte, darüber kann man nur spekulieren. Vieles, darauf deuten die Inhalte der nun vorliegenden zwei Bände hin, knüpft an frühe Erinnerungen, anderes an das unmittelbare Erleben – oft durchdrungen von der Sehnsucht nach etwas mehr Raum für sich selber. Lebhaft in Erinnerung sind die Schilderungen ihrer Söhne, der Künstlerbrüder Riklin (Null-Stern-Hotel), wie ihre Mutter für sie und die Kinder im Quartier einen Zirkus aufbaute und auch die einzelnen Nummern mit ihnen einstudierte und zur Aufführung brachte.
Kindliches Staunen, Wortspiele, flirrende Mosaike zwischen zauberhafter Imagination und widerspenstigem Aufbegehren finden sich in ihren acht im Band «Tschaika» versammelten kürzeren und längeren Geschichten aus den Jahren 1986 bis 1996. In der Eingangserzählung, die dem 125seitigen Werk den Titel gibt, ist vom Brombeerhag die Rede, hinter dem die Mädchen Alma und Mathilda sich verstecken und kichern – bis Mathilda den Namen ihrer Kameradin ins Deutsche übersetzt. Damit trifft sie in der «Seele» von Alma einen wunden Punkt.
Von Brombeeren ist auch mehrfach die Rede im Gedichtband mit dem Titel «Mondsichel mäht im Gras der Träume». Die von Rainer Stöckli gesichteten und für den Lyrikband ausgewählten Gedichte stammen aus den Jahren 1955 bis 2013. Sie setzen also in Riklins jungen Jahren ein, als die in Freiburg Aufgewachsene keine 20 Jahre alt war. 1978 schrieb sie im Gedicht «An der Schwelle» von der «brombeerblauen Nacht», und fünf Jahre später unter dem Titel «Spätsommer» die einzelnen Worte untereinander, als zählte sie die einzelnen Beeren als Taktschritte des Wartens: «Brombeeren/ sparen/ heimlich/ reife Säfte/ für/ unsichtbare/ Schalen/ die im/ Dunkeln/ stehn». Die Lyrikerin und Pianistin schrieb sie im Jahr ihrer ersten öffentlichen Lesung und sie vermerkte dazu, dass sie, als die jüngsten Kinder fünf Jahre alt gewesen seien, in eine neue Phase des Schreibens getreten sei. «Es handelte sich um ein Losstrampeln des Kerns aus vielen, nicht immer wesentlichen, oft nur zufälligen und vielleicht überflüssigen Hüllen. Es ging um den Übergang vom Zustand des Träumens in den des Wachens, aber auch umgekehrt von jenem des allzu starken Bewusstseins unmittelbarer, dringender Pflichten und die schöpferische Sphäre des Unbewussten und seine vielleicht nicht minder bedeutenden Aufgaben zurück.»
Wie sehr sie es beherrschte, diesem Unbewussten auf der Klaviatur ihrer verdichteten Kunst eine Melodie zu geben, lässt sich sehr eindrücklich nachlesen in der Geschichte um Tuma, dem Pianisten in Grönland. Gleich einer Partitur fächert Riklin Stimmen und Tempi auf, lässt sie in einem Allegro vivace zehn grosse Hunde durch die Eislandschaft rasen.
Fred Kurer, der verantwortlich zeichnet für die Auswahl der Erzählungen, schreibt von der «klar weiblichen Sicht» der Autorin mit den allgegenwärtigen Erfahrungen des täglichen Lebens «[...] mit seinen Schwierigkeiten, Demütigungen, ja Kränkungen und aus all dem das Sich-Entziehen in Welten des Träumens, Tagträumens, der Phantasie».
Lesung von Lyrik und Prosa aus dem Nachlass: Mi, 2.11., 19.30 Uhr, Keller der Rose, St. Gallen