Was soll Musikkritik? Wie weit darf sie gehen? Was kann sie erreichen? Die Leser sind sich darüber uneinig.
Es ging mir immer um dasselbe, ob Kritik, Porträt, Interview, Kolumne oder Kommentar. Immer wollte ich auch sagen: «Klassische Musik ist grossartig. Gehen Sie ins Konzert! Besuchen Sie die Oper!» In allem diesem Für und Wider nahmen die Leser regen Anteil, an den Diskussionen über Regie, Dirigenten, das Hohe C, Anna Netrebko, Alexander Pereira, Cecilia Bartoli, Andreas Homoki, Riccardo Muti, Herbert von Karajan, Maria Callas, Andris Nelsons, Luciano Pavarotti oder Sol Gabetta.
Manchmal kam die Quittung sehr rasch. Schrieb ich den Erbosten zurück, änderte sich der harsche Ton meistens. So lächle ich heute über die Worte von Herrn Neumann, der einst nach einer Hymne auf Opernstar Anna Netrebko frei nach Antoine de Saint-Exupéry schrieb: «Man hört nur mit dem Schwanze gut, das Wesentliche bleibt für die Ohren unhörbar.»
Dazu passte auch Herr Niessners Kommentar: «Zum Artikel ‹Alexander Pereira, Arschlöcher und ein Tenorprinz› ist nur zu sagen: selber eins.»
Und Herr Walliser setzte dem drauf: «Herr Berzins’ Journalismus hat nur etwas am Rande mit ernsthafter Auseinandersetzung mit klassischer Musik zu tun. Seine Spezialitäten sind die Junggenies, die Lichtgestalten, die musischen Bond-Girls, die in die Jahre gekommenen Legenden.»
Mit Geist oder mit Schleim?
Eine dieser Legenden ist die Sopranistin Edita Gruberova (* 1946). 2013 schrieb ich einen Kritik-Brief an die Primadonna, den Frau Disler so kommentierte: «Sicher die schönste Kritik, die Gruberova je in ihrem Leben bekommen hat.» Und die grosse Sängerin Maria Riccardo Wesseling schrieb dazu: «Auf so viel Geist, Herz und Verstand treffen wir in der Kritiker-Riege nicht oft.» Worauf ein anonymer Herr konterte: «Der schleimige, sklavisch unterwürfige Artikel des ‹treuen› Herrn Berzins ist einfach widerlich!»
Was darf man eigentlich schreiben? In einer Diskussion mit der «FAZ»-Kritikerin und dem «NZZ»-Kritiker fragten wir uns einst, wie weit man mit Kritik gehen könne. «FAZ» und ich meinten: «Ich muss das Geschriebene dem Kritisierten nicht ins Gesicht sagen können.» Das gilt für negative, aber vor allem auch für positive Worte. Eine Opernkritik ist nun mal keine offizielle Verlautbarung, sondern sie ist ein aufs Papier gebrachter hochpersönlicher Gedanke.
Die Zuspitzung, das unbarmherzige Sezieren, der Spott wie die Liebe und die wortreiche Ausschmückung gehören dazu: Wie anders als emotional lässt sich über Musik schreiben? Und doch ists ein am Schreibtisch nüchtern konstruiertes Urteil: Das ist weit entfernt des Fan-Jubels, der in der Opernwelt verbreitet ist.
Mut zur Meinung
Der Musikkritiker muss das Risiko eingehen, eine Meinung zu haben. Es ist nicht schlimm, wenn sie «falsch» ist, allen anderen widerspricht. Das Opernhaus Zürich erhält 81 Millionen Subventionen, die können gut über böse Kritiken hinwegtrösten. Schon wer in der Pause mit den Kritikerkollegen plaudert, weicht die Gedanken auf. Nichts Traurigeres, als wenn alle Kritiker einer Meinung sind.
Der Kritiker muss seine im Laufe der Jahre gesammelten Künstlerfreunde auch immer wieder enttäuschen. Eine Feindschaft-Freundschaft wie ich sie mit Alexander Pereira führ(t)e, ist nicht das Schlechteste. Ging ich zu weit, rief Pereira jeweils an und drohte mit der Veröffentlichung von Unterlagen, die in einer berüchtigten Mappe auf seinem Tisch lagerten: Darin waren offenbar alle meine Verfehlungen gesammelt. Irgendwann begann ich, eine Pereira-Mappe anzulegen.
Erst Fan, dann Kritiker
Cecilia Bartoli stand ich mit 20 als Opernfan etwas gar nah. Sie fiel mir im Künstlerzimmer um den Hals, wenn ich wegen eines Liederabends nach Mailand gefahren war. Später dann, nachdem ich oft das Streitgespräch gesucht und ihre Kunst kritisiert hatte, setzte der Opernstar ein professionelles Lächeln auf, wenn wir uns trafen.
Eine Kritik ist nicht für den Künstler, schon gar nicht für eine Institution, sondern sie ist geschrieben für den nicht spezialisierten Leser. So war ich denn stolz, als ein ehemaliger Zürcher Opernhausdramaturg spottete, ich würde vom Stehplatz aus schreiben.
Der Stehplatz in Wien oder Mailand war tatsächlich lange Jahre meine Heimat. Wenn in der Scala in der Pause im Parkett unten die Brillanten vorgeführt werden, eile ich noch heute jedes Mal die sechs Stockwerke hoch zu meinen alten Freunden, den Loggionisti. Auch heute Abend bei «I due foscari». Nirgends diskutierte man schöner und wortreicher über Oper als in der Galerie der Mailänder Scala.
Aus diesem Geist heraus schrieb ich meine Kritiken: immer wieder ankämpfend gegen Erwartungshaltungen. Sie sollten auch unterhalten. Bezeichnend, schimpfte ein Wirtschaftsmann, der ein Festival sponsert: «Wir hätten erwartet, dass Berzins etwas objektiver im positiven Sinn über das Konzert berichten würde.»
Übersetzt heisst das: Ich schrieb «subjektiv negativ». Anders gesagt: ehrlich. Wer ehrlich ist, beleidigt bisweilen die Menschen. Das mag Leser Herr Kaufmann gar nicht: «Dieser Christian Berzins hat: NULL Anstand! NULL Respekt! NULL Ahnung von Musik. Dieser Typ ist einfach nur ein widerlicher, kranker Schreiberling, der dringend einen Psychiater benötigt. Ich brauche gute Sachberichte und nicht unterste Schublade eines Psychopathen.»
Egomanisch und schnoddrig
Wer sachlich konstruktiv über Musik schreiben will, wird genauso scheitern, wie jener, der sich durchaus mal von den Emotionen mitreissen lässt. Allerdings wird die Kompetenz des sachlichen, dialogbereiten Kritikers nie infrage gestellt. Herr Heinzer schrieb mir zu diesem Thema: «Der Aargauer Zeitung wäre zu wünschen, einen kompetenten Kulturredaktor zu haben. Christian Berzins berichtet statt über besuchte Veranstaltungen vorwiegend über sich selber. Narziss pur.» Und Herr Raphael legt nach: «Berzins Sätze zeugen von egomanischer, teils schnoddriger Berichterstattung, die jegliche Dialogbereitschaft oder gar konstruktive Kritik schon gar nicht in Erwägung zieht. Bei biografischen Recherchen stösst man bei Musikkritikern in vielen dieser Fällen auf abgebrochene oder gescheiterte Musikerkarrieren dieser meist umstrittenen Leute.»
Liebesbriefe an den Kritiker
Bevor es mit der Kritik an mir noch schlimmer kommt, sei Frau Müller zitiert: «Lieber Herr Berzins, Ich erlaube mir, Sie so anzusprechen, weil Sie mir sehr vertraut sind. Was jetzt kommt, ist fast ein Liebesbrief (keine Angst, ich habe Jahrgang 1944). Virtuell habe ich Ihnen schon viele Briefe geschrieben. Was wär die az ohne Ihre Beiträge!! Ich denke, ich müsste sie abbestellen. Sie haben mich durch den az-Sommer getragen.»
Und die Gambistin Hille Perl schrieb mir: «Könnten Sie nicht bitte mitreisen und immer so schreiben, das Leben wär einfach, und die Leute, die nicht da waren, würden es bedauern und auf jeden Fall das nächste Mal doch unbedingt ins Konzert gehen.»
Mehr kann eine Kritik nicht erreichen, als die Menschen zum Konzertbesuch anzuregen.
PS: Als ich 2015 wegen Ferien drei Wochen nichts im Blatt hatte, schrieb Herr Burri: «Lieber Herr Berzins, Meine Schwester in Basel und ich in Zürich vermissen Ihre Artikel. Haben Sie die Bühne gewechselt? Wir wären gerne auch am neuen Ort dabei – aber wo?»
* Mit diesem Text verabschiedet sich Christian Berzins von der «Nordwestschweiz». Er war während 18 Jahren als Redaktor für klassische Musik für unser Unternehmen tätig.
Wir danken ihm für seine kompetente und engagierte Arbeit und wünschen ihm viel Erfolg bei seiner neuen Aufgabe bei der «NZZ am Sonntag». (cav)