Startseite
Kultur
Musik
Der 72-jährige Deutsch-Rockpionier Udo Lindenberg hat alles erreicht und doch noch lange nicht genug. Neben der Musik will er nun noch zum Film und in die Politik.
Stolze 72 Jahre hat Udo Lindenberg jetzt auf dem Buckel. Doch gewinnt man den Eindruck, dass dieser Mann umso umtriebiger wird, je weiter er sich rein rechnerisch von seiner
Jugend entfernt. Wir treffen den Opa des deutschen Rock in einem Berliner Hotel. Während des Gesprächs zieht er immer wieder an einem Stäbchen, das dann vorne leuchtet.
Udo, sind Sie auf E-Zigarre umgestiegen?
Udo Lindenberg; Ich rauche beides. Nur nicht mehr 15 Zigarren am Tag.
Mit der Stimme bin ich gerade sehr zufrieden, die ist schön rau, dank Whisky und Kuba-Zigarren, aber sie darf auch nicht zu rau sein. Deshalb muss ich genau dosieren.
Auch den Alkohol?
Gerade den Alkohol. Die Ballerei nach der Mengenlehre, die ist lange vorbei. Ich brauche nicht mehr viel. Mein Eierlikör ist voll ausreichend. Ansonsten bin ich naturstoned. High werde ich bei meinen Konzerten und den ganzen Abenteuern, die ich mit meiner Musik erleben darf. Das ist auch wie eine Droge. Eine bessere Droge. Und diesen Rausch auf der Bühne, den kann ich heute richtig geniessen. Mit Alkohol in Mengen wirst du rund und langsam und haust dich nur noch in die Ecke. Ich wollte kein Rock’n’Rollmops werden und so enden wie Elvis in Las Vegas.
Sie wollen Ihren Job ja auch noch eine Weile machen, oder?
Ich habe den Leuten versprochen, dass ich noch 30 Jahre am Start bin.
Das sagen Sie seit Jahrzehnten.
Ja. In 30 Jahren ist die Medizin so weit, auch mit Lebensverlängerungspillen, dass man dann wieder 30 Jahre dranhängen und die 130 als Ziel ausrufen kann. Ich kann die Leute ja nicht hängen lassen, sie brauchen ihr Udopium.
Nun bekommen die Leute eine neue Platte und DVD. Ist das für Sie jedes Mal ein neues Abenteuer, mit einem frischen Projekt in See zu stechen?
Oh ja. Mit dem Dreimaster auf den Atlantik raus zu segeln, hier und da ein paar Freigeister aufzunehmen, das war herrlich. Ein paar Leute wie Gentleman oder Marteria, die kommen dann an Bord und tragen ihren Teil bei. Oder Maria Furtwängler, das war echt ein Abenteuer und ein schönes Ding. Erlebnisse wie dieses halten mich frisch.
Maria Furtwängler sagt, sie trägt Ihre Unterhosen. Echt wahr?
Die Grösse passt. Sie trägt auf der Bühne Klamotten, die meine Sekretärin zu ihr nach München geschickt hat. Im Paket waren versehentlich auch ein paar Unterhosen, und sie sagt, die passen genau. Und sie hat in dem Paket ein lustiges Ding mit Hirschgeweih erwischt. Maria und ich haben uns bei einem Kostümfest kennen gelernt, da brauchte sie eine geile Klamotte, also habe ich ihr mit einer Original-Udo-Ausrüstung ausgeholfen. Nun singen wir im Partnerlook. Maria und ich, das passt einfach. Sie singt mit mir überhaupt zum ersten Mal. Toll, dass sie sich das getraut hat.
Schauen Sie «Tatort»?
Ja, vor allem, wenn Maria kommt. Ich schaue das richtig gerne, so gerne, dass ich mitspielen will. Das wird auch momentan überlegt. Ich habe sie entdeckt für den Gesang, und sie entdeckt mich möglicherweise für die Schauspielerin. Sie ist eine hinreissende Schauspielerin. Ich bin echt ein Fan von ihr.
Ihr Duettpartner Jan Delay sagt, Sie seien der «Derbste». Was meint er?
Ich denke, er meint der Krasseste und der Mutigste. Ich habe keine Angst vor grossen Dingern, bin immer am Vorpreschen mit meinen Shows, auch mit den kulturhistorischen Auftritten wie damals zu DDR-Zeiten 1983 im «Palast der Republik». Und damals Anfang der Siebziger, es sich überhaupt zu trauen, deutsche Texte zu singen, wo alle anderen auf englisch setzten und Deutsch die Sprache der Schlagerfuzzis und Liedermacher war, das war auch gewagt. Aber ich wusste, das muss irgendwie gehen. Okay, mit 15 Doppelkorn im Kopf, da kamen die deutschen Texte irgendwie angeflogen.
Udo Lindenberg zu sein ist nichts für Feiglinge.
Bestimmt nicht. Wenn du über das Brandenburger Tor fliegst, über die Köpfe von einer Million Leute hinweg, musst du dich schon was trauen – und leicht verrückt sein. Aber ich bin gern verrückt. Einer muss das ja machen.
Kürzlich ist die sehr lesenswerte Biografie «Udo» erschienen, momentan laufen die Dreharbeiten zum Kinofilm «Lindenberg! Mach dein Ding!», der sich der Geschichte des jungen Trommlers aus dem westfälischen Gronau auf dem Weg zum Star widmet, und im kommenden Sommer wird Udo wieder ausgedehnt auf Tournee gehen. Aber jetzt kommt erst mal: Das neue Album «MTV Unplugged 2 – Live vom Atlantik». Im Juli dieses Jahres hat sich Deutschlands coolste Socke sieben Jahre nach der dortigen Aufnahme seines ersten Unplugged-Albums erneut in die Hamburger Kulturfabrik Kampnagel begeben, und dort an zwei Abenden ein stimmungsvolles akustisches Konzert eingespielt. Dieses Mal hat Udo vermehrt auch alte Schätze aus seiner bald fünf Jahrzehnte währenden Laufbahn gehoben. Zu den Duettgästen zählen unter anderem Maria Furtwängler, Jan Delay, Marteria und Alice Cooper. (st)
Udo Lindenberg MTV Unplugged 2 – Live vom Atlantik (Warner).
Sie haben den Deutsch-Rock sozusagen erfunden. Popmusik mit intelligenten deutschen Texten. Kann man sagen, Sie schwelgen heute zugleich in Nostalgie und sind mitten im Jetzt? Als taufrische Legende?
Ja, das läuft alles gleichzeitig. Ich rieche auch manchmal an meiner Haut, ob sie schon nach Denkmal riecht. Aber nein, sie duftet nach frischer Lindenblüte. Sicher, viele sehen in mir so eine alte Legende. Doch ich selbst fühle mich eher als ein Beginner. Man weiss ja bei jedem neuen Projekt vorher nicht, wie es wird. Ich bin da wie ein Entdecker, der durch die Nebelwand segelt, wie ein Vasco da Gama. Auch die Astronauten sind meine grossen Vorbilder.
Sind Sie ein Mittzwanziger im Körper eines 72-Jährigen?
Diese irdische Zeitzählung ist nichts für mich. Bei anderen Leuten in meinem Alter denke ich immer: «Das ist eine ganz andere Generation». Ich bin zeitlos. Man nennt mich auch den Elasto-Man. Ich bin grazil wie eine Gazelle. Die Kondition ist exzellent. Ich mache Sport, nachts jogge ich um die Alster, in Berlin im Tiergarten, sieben Kilometer.
Heute ist es kalt und nieselt. Gehen Sie dann trotzdem laufen?
Mal gucken, das ist jetzt nicht so behördenmässig. Vor der Tour mache ich mehr, auch Elektrostimulanz-Training, da bekommst du leichte Stromschläge. Yoga mache ich auch, Liegestütze, autogenes Training. Ich bin ein biologisches Wunder. Ich habe eine ostasiatische Genetik.
Bitte was?
Meine Ur-Ur-Ur-Grossmutter kam aus Batavia, dem heutigen Jakarta in Indonesien. Das war damals eine holländische Kolonie, und sie wurde irgendwann als Sklavin nach Holland gebracht. In meinem Körper fliesst Sklavenblut. Deswegen bin ich auch so ein proletarischer Hund und will die Paläste zurück. Ich meine, ich wohne im Hotel Atlantic, das ist ein Palast, und das steht den Sklaven jetzt auch zu. Daher jedenfalls habe ich diese fernöstlichen Gene, diese jugendlichen Hände, diese Geschmeidigkeit (lacht).
Alkohol ist auch ein Konservierungsmittel. Hat Sie möglicherweise auch die jahrzehntelange Sauferei auf eine Art jung gehalten?
Das wird so sein. Trotzdem werde ich nicht wieder damit anfangen. Ich habe vor über zehn Jahren den Deal gemacht, das Saufen einzutauschen gegen alles andere, was geil ist, vor allem die Bühne. Ich habe den Alkohol verloren, aber ich habe mich, in echt, gewonnen. Das war es absolut wert.
Ihr ganzes Leben ist ein Fest. Und seit dem Comeback-Album «Stark wie zwei» 2008 und der ersten «MTV Unplugged»-Platte drei Jahre später sind Sie permanent obenauf. Erleben Sie das auch so?
Ja, das sind jetzt echte Wunderjahre. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es noch mal so abgeht. Aber es ist wirklich so: Alles, was ich mache, geht seit zehn Jahren megamässig ab.
Haben Sie alle Ziele erreicht? Sind Sie du wunschlos glücklich?
Politisch möchte ich noch mehr bewirken. Ich wünsche mir ein grosses, vereintes Europa, zwischen den Grossmächten moderierend und mahnend zur Abrüstung. Das kann so nicht weitergehen, wie sich die hirnamputierten Schwachmaten Trump und Putin mit ihrer Aufrüstung brüsten. Und ihre widerlichen Waffenlieferungen an die Saudis, damit die im Jemen noch besser morden können. Gerade Deutschland, als Verlierer von zwei Weltkriegen, muss als Vermittler einen Schritt nach vorne machen und sagen: Ihr müsst miteinander reden, reden, reden. Aufrüstung ist ein tägliches Verbrechen, während in vielen Teilen der Welt die Frauen, die Kinder, die Menschen sterben. Das ist pervers und kriminell. Jeder, der nichts dagegen tut, ist Teil dieser stummen Armee, die solche Zustände durch Passivität mitträgt. Deswegen «Wir ziehen in den Frieden.»
Sie sprechen in diesem Lied die Hippies an, die alten Tugenden von Love & Peace. Glauben Sie noch an diese alten Utopien der 60er-Jahre?
Ich bin überzeugt, dass wir solche Visionen brauchen. Keine Grenzen, keine Mauern, sondern Menschenketten, das ist mein Traum. Wir müssen so viel machen, wir müssen die Ozeane retten, wir müssen den Klimawandel hinbekommen, wir brauchen Geld für unsere Sozialsysteme - das sind Visionen. Ich weiss auch, dass viel gelingen kann. Woodstock hat dazu beigetragen, dass der Vietnamkrieg endete, die Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King, in Deutschland die Bewegungen für Umweltschutz. Es ist geil, wenn Leute losziehen und für etwas eintreten. Neulich waren 300 000 Menschen in Berlin auf der Strasse und haben für kulturelle Vielfalt und Weltoffenheit und gegen Abschottung demonstriert.
Wie geht man mit Nationalisten wie denen von der AfD um? Gilt da auch «Keine Panik», oder machen dir die rechtsnationalen sorgen?
Also, mit erklärten Nazis kann man nicht sprechen. Wer die Menschenwürde infrage stellt oder den Holocaust leugnet, dem kann keiner helfen. Aber es gibt viele, die sind von der Schwankstelle. Die haben keine Informationen, auch weil kein Politiker Klartext spricht. Wenn Behörden zu langsam sind, der Strafvollzug zu lasch, und keiner mit denen spricht, dann entsteht ein Vakuum. Und so breiten sich diese stumpfen Ressentiments und der Ausländerhass aus, was sehr peinlich ist in einem Land mit dieser Geschichte. Ich glaube aber, das ist vor allem ein Ausdruck von Hilflosigkeit, Uninformiertheit und dem Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden. Ich will eine Politik, die Klartext spricht. Macron hat gerade direkt zu seinem Volk gesprochen. Merkel hat das nicht hingekriegt. Bei uns sind eher Künstler wie Campino, Grönemeyer oder ich in dieser Rolle. Wir sind eine Art Gesinnungsfamilie, die zusammen einsteht für dieses freie, geile Land. Ich weiss, dass die meisten Menschen in Deutschland auf unserer Seite sind.
Die Deutschen würden Sie wahrscheinlich auch als Kanzler wählen.
Kann sein (grinst). Allerdings bin ich für den Job noch zu jung.
Wären sie lieber Bundeskanzler oder Bundespräsident?
Lieber Präsident. Der Job ist easy. Kanzler ist zu hart, da muss man immer früh aufstehen, das ist nicht mein Ding. Ich wäre gern ein ausgeschlafener, tiefenentspannter Präsident. Aber ich muss erst noch ein bisschen reifen.
Sie haben ja noch Zeit.
Eben. Wenn mich das Volk will, dann mache ich das auch. Ich habe den grossen Vorteil: Ich koste nichts. Ich wohne im Atlantic, einem Schloss, habe eine Staatskarosse, einen Hybrid-Porsche als Präsidentenauto, eine E-Karosse, den Präsidentenhut habe ich auch schon auf. Ich brauch auch keine Gage, es wäre für alle das Beste. Als Präsident wäre ich ein Geschenk für das deutsche Volk.
Sie sind ja einer der beliebtesten Deutschen überhaupt.
Jau. Ich bin ja auch geschmeidig, bekömmlich und easy.
Können Sie die Franzosen verstehen, dass sie protestierend auf die Strasse gehen? Und sollten die Deutschen auch stärker aufbegehren?
Ja, ich finde schon. Die Franzosen sind bei so was immer etwas schneller, vielleicht, weil sie mehr Wein trinken. Bier macht langsam und träge. Deswegen waren sie mit der Revolution auch früh dran. Aber klar, die hohen Steuern, die Mieten, das sind soziale Ungerechtigkeiten, da muss Macron drauf achten. Sonst finde ich seine Vision vom vereinten Europa genau richtig. Uns Zwergenstaaten bleibt nichts anderes übrig.
Wärst du für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle?
Ich bin kein Sozialpolitiker, aber ich glaube, da ist was dran. Aber noch besser ist, dass alle Leute arbeiten. Die Menschen aus anderen Ländern, Migranten, die sich hier einbringen möchten, die sollen das doch bitte tun, zum Beispiel in Pflegeberufen oder als Handwerker, da gibt es Riesenlücken.
Können Sie sich einen Udo Lindenberg als Rentner vorstellen?
Nö, überhaupt nicht. Das ist eine ganz andere, mir fremde Welt. Richtige Rocker gehen nicht in Rente.
Sie haben viele junge Kollegen bei den Unplugged-Konzerten dabei. Wachsen genug verrückte Künstler nach?
Nee, leider nicht. Die meisten sind langweilig, richtig langweilig. Textlich passiert nichts mit Rebellion, nichts mit neuen Visionen. Sehr viel seichtes Zeug, die milde Sorte, langweiliges Pop-Zeugs. Und Strassenrap ist für picklige kleine Jungs auf dem Schulhof. «Ey, ich fick’ die Mutter». Traurig, dass es sowas gibt, an Beknacktheit ist das nicht zu überbieten, so ein Rap, el primitivo, nein, wie daneben kann man sein? Auch Rock’n’Roller wachsen nicht nach. Und wenn keiner da ist, tja, dann stellt sich die Frage: Muss ich auf meine alten Tage noch mal ran? Und die Antwort: Ja. Muss ich.
Was soll in den nächsten Jahren bei Ihnen passieren?
Die Filmerei ist mein Ding, da passiert hoffentlich was. Dann: Planetenretten und gegen die ganzen Bekloppten vorgehen, da gibt es genug zu tun. Nächstes Jahr werde ich aber erstmal auf grosse Tournee gehen.
Wie verbringen Sie Weihnachten?
An der Bar im Atlantic. Da treffen sich die Heimatlosen am Tresen, darunter viele Musiker. Einige gehen mal kurz nach Hause zur Familie und kommen gegen Mitternacht zu mir, gurgeln mit Weihwasser und retten die Welt.