«Prog» war jahrelang ein Schimpfwort für uncoole Musik. Steven Wilson hat sich nie um Vorurteile gekümmert. Heute ist er das Aushängeschild eines vitalen Musikstils.
«Progressive Rock» – auch «Prog» – war das Feindbild der Punks. Sie dachten dabei an Bands, die ihre Inspiration aus «Der Herr der Ringe» bezogen und ihre Triple-Alben mit episch vertrackten Kompositionen und wüsten Heldensagen füllten. Aus der Perspektive der politisch aufgewühlten und kulturell bewegten späten 70er-Jahre war es schwierig, die schwülstig-überladenen Shows von Rick Wakeman, die uferlosen, hochvirtuosen und konstruierten Synthi-Soli von Keith Emerson oder die esoterischen Texte von Yes gut zu finden.
Dabei nützte es wenig, dass sogar Sex Pistol Johnny Rotten von der kunstvoll-vertrackten Musik der britischen Prog-Rocker Van der Graaf Generator (1967– 1978) schwärmte und King Crimsons Gitarrist Robert Fripp mit Klangtüftler Brian Eno zusammenspannte: «Prog» wurde weitherum mit Bombast und Kitsch gleichgesetzt. Dabei hatte der Begriff auch eine positive Bedeutung: er stand für Künstler, die sich bemühten, das Rock-Format zu erweitern. Das Spektrum reichte von King Crimsons mutantem Jazz über die Klassik von Focus bis hin zu Pink Floyds Psychedelik und den surrealen, folkigen Geschichten von Genesis. Doch von den schrillen 80er-Jahren aus sah das alles aus wie das letzte Rauchzeichen einer vergangenen Welt.
Steven Wilson wuchs in Hemel Hempstead auf, einer Satellitenstadt in der Nähe von London. Schon ein paar Kilometer ausserhalb war die Wirkung des städtischen Trenddiktates geschwächt. «Dass ich mich für Pink Floyds ‹Dark Side of the Moon› ebenso begeistern konnte wie für Abba oder Kate Bush, machte mich nicht zum Aussenseiter», sagt er. «Wir hörten Musik, ohne uns um die Moden zu kümmern.»
Prog-Bands gab es auch in den 80erJahren. Es waren Bands wie etwa Marillion oder It Bites, die mit Keyboards ausgeklügelte Arrangements bastelten, stark auf Melodien setzten und lange Stories erzählten. Sie schafften es sogar in die Hitparade. Doch sie waren die Ausnahme. Mit «Prog» schien es vorbei zu sein.
Doch Wilson spricht heute nicht mehr von einem Bruch zwischen Prog und Punk sowie der Musik der 80er-Jahre. Vielmehr sieht er eine klare historische Linie von Pink Floyd über Led Zeppelin, die deutschen Kraut-Rockbands Can und Neu! bis zu Joy Division, Kate Bush, Wire, Japan oder XTC. «Allen geht es darum, künstlerisch ambitionierte Musik und Texte zu schaffen», sagt Wilson.
Dass Prog wieder von sich reden macht, hat viel mit Steven Wilson zu tun. Die Arbeit des heute 49-jährigen Briten wurde erstmals im Rahmen der Prog-Band Porcupine Tree wahrgenommen. Parallel dazu formierte er in den späten 90er-Jahren No-Man und experimentierte mit Dance-Rhythmen. Beiden Bands gehörten zeitweise frühere Japan-Mitglieder an.
Dann, 1997, erschien das epochale Radiohead-Album «OK Computer». Obwohl nicht so deklariert, servierte es «Prog» in Reinkultur und zeigte einer neuen, ambitionierten Generation von Musikern und Fans, was mit einer Rockinstrumentierung auch noch möglich war. Der Einfluss des Albums auf die britische Musikszene war gewaltig. Das Internet half. Im digitalen Zeitalter lösten sich die alten Vorurteile in Luft auf. Auch die obskursten Alben aus den 60er-und 70er-Jahren wurden wieder zugänglich. Ein unglaublicher musikalischer Schatz wurde wiederentdeckt. Ein junges Publikum merkte, dass «Progressive Rock» ein ungleich abenteuerlicheres Tummelfeld sein konnte, als es die Vorurteile glauben machten.
Es entstanden viele «Prog»-Bands, und seit 2009 gibt es sogar eine britische Zeitschrift mit dem Namen «Prog» und dem Untertitel «Astounding Sounds, Amazing Music». Dabei hatte sie nie Mühe, ihre 130 Seiten mit Hintergrundgeschichten zu füllen. Und Steven Wilson ist ihr Held. Auch in der aktuellen Ausgabe liefert er wieder die Cover-Story.
«To the Bone» heisst sein neues, multistilistisches Album. Da glaubt man, den Einfluss von XTC zu hören, deren Alben Wilson in den letzten Jahren für 5.1 Surround neu abgemischt hat und deren Kopf, Andy Partridge, die Lyrics für das Titelstück beisteuert. Anderswo rockt die Gitarre wie ein melodischer Robert Fripp, dann wieder schwebt ein nahöstlicher Duft über der Musik. Wilson nennt Peter Gabriel, Kate Bush oder Talk Talk als Inspirationsquellen. «Ich mag die Eleganz und die zeitlose Würde von Alben wie Talk Talks ‹Spirit of Eden› oder Peter Gabriels ‹So›. Auch Radiohead sind für mich eine grosse Band, vielleicht die grösste überhaupt.»
Auf «Permanating», dem poppigsten Song von Wilson, stecken Abba, Daft Punk und Beatles. «Das ist die pure Pop-Lebensfreude. Ich orientiere mich eben eher an den glorreichen 70er-Jahren, nicht am farblosen Pop von heute», sagt Wilson. Dabei erweitert und aktualisiert er seinen Prog um Elemente des Alternative Rock, Metal und Ambient. Der Kreis schliesst sich, und Prog wird rehabiliert.
«Die kreativste Phase im Pop und im Rock waren für mich die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen «Sgt. Pepper’s» von den Beatles und dem Aufkommen des Grunge. Seit Mitte der Neunziger ist nichts Aufregendes passiert. Die Konservativsten im Pop sind mittlerweile die Leute zwischen 20 und 30, dabei waren sie früher die Revoluzzer. Doch jetzt? Was ist falsch gelaufen?»