Rock
Schräge Helden: Die Kummerbuben wandeln auf neuen Wegen

Zartbesaitete seien gewarnt: Es fliesst Blut. Denn weidwund ist so mancher Held im Universum der Kummerbuben. Angeschossen, verletzt, dem Tod nahe. Und doch mitten im prallen Leben. «Weidwund» nennt die Berner Truppe ihr neues Album.

Michael Gurtner
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«Mir gefällt das Bild von jemandem, der in den Eingeweiden getroffen ist, von Helden, die schon einiges abbekommen haben», sagt Sänger Simon Jäggi. Und langsam, aber sicher habe man ein Alter erreicht, in dem man selber nicht mehr ganz unversehrt durchs Leben gehe. Kein Wunder, tauchen auf «Weidwund» Figuren auf, die ihre Jugend vergeudet haben, Menschen, die mit brennenden Schuhen tanzen, Abgestürzte, denen die Kumpel die Gläser leersaufen. Die Hoffnung ist ein Katzensprung, der Nachgeschmack parliert mit dem Mund, im lauen Bier schwimmen alle Träume der Welt. Willkommen im Kosmos der Kummerbuben.

«Das Mänteli abstreifen»

Es ist ein Kosmos, der in neuen Farben und Facetten schimmert. Hat das Berner Sextett auf den ersten beiden Platten Volkslieder ausgegraben und mit rumpelndem Rock, sehnsuchtsgetränktem Folk und durchgeknallter Polka neu vertont, wagt es sich mit «Weidwund» an die eigenen Songs. «Wir wollten das Mänteli der Band abstreifen, die Volkslieder ausgräbt», erklärt Texter Simon Jäggi. Künstlerisch habe sich das Ganze erschöpft – oft seien die Kummerbuben als Konzeptband wahrgenommen worden, die sie nie waren. Jeder hat sich musikalisch stark eingebracht – darum ist die Platte so heterogen geworden. Tatsächlich lebt «Weidwund» von den stimmigen, vielschichtigen Arrangements, von der Dynamik zwischen sanft melancholischen und wild galoppierenden Passagen, zwischen himmelhoch betrübt und zu Tode jauchzend.

Wild ist der Start von «Absinth», doch mit einem Male wird das Lied ganz sanft, ganz harmonisch, lässt Raum für die Textzeile «Für ne giftgrüene Momänt hani vergässe, wär i bi» – bis der «Absinth!»-Schrei die vermeintliche Idylle abrupt zerreisst. Ein rumpelnder Tom-Waits-Beat, brummende Bläser, sinistre Orgelklänge treiben die «Helden vom Dorf» voran. Da ist Herbert Minder, der brave Steuerverwalter, der in seiner Schublade eine riesige Vulva entdeckt, und weil vom Reglement her nichts dagegen spricht, einfach mal reinsteigt. Oder Küre Schneider, der aussortierte YB-Biber, der plötzlich Schwimmhäute kriegt und eine Biberburg in Belp übernimmt.

Kopfkino und reale Abstürze

Es sind solch herrlich surreale Momente, die «Weidwund» zum Ereignis machen. Oder die Sehnsucht von «Wild im Härz», das von einer Amour fou erzählt und nicht ganz zufällig heisst wie ein düsteres Drama von David Lynch («Wild at Heart»). Oder die Berner Befindlichkeiten mit «versiechete Chance» und «Wott mal einisch chönnen erläbe, wi myni Mannschaft nid zwöite wird»-Groove. Da mag in schrägen Textideen Endo Anaconda aufblitzen, im auch mal lakonischen Gesang Kuno Lauener, im verspielt instrumentierten Sound Patent Ochsner. Aber eigentlich sind die Kummerbuben einfach die Kummerbuben. Sie heben sich ab, ohne selber abzuheben. Sie schunkeln und schwelgen, und dann ballern sie alles über den Haufen. Auf seine Texte angesprochen, erzählt Simon Jäggi von Kopfkino, von Bildern, die in seinem Kopf rumspuken. Aber auch von realen Erlebnissen, die ihn inspirieren. So wie bei «Absinth»: «In Deutschland sind wir nach einem Konzert in einen fürchterlichen Absinthrausch reingelaufen – und ich hab gemerkt: Da passiert etwas mit einem, das anders ist als bei anderen Substanzen.»

Oder bei «Afrika», das von Schweizer Bauern vor langer Zeit erzählt, die sich nach einem Ort sehnten, wo es ihnen besser geht. Und diese Situation den afrikanischen Flüchtlingen gegenüberstellt, die nach Lampedusa zu gelangen versuchen. Bei den Recherchen zu den Volksliedern fiel Jäggi einst auf: «Wir sind ein Volk von Migranten. Um das Weggehen und Heimkommen ging es in jedem zweiten Lied. Aber wir haben das vergessen. Heute machen uns Migranten Angst.»

Verzweiflung und Verzückung

Und so reibt sich auf «Weidwund» stille Verzweiflung an wilder Verzückung. Wunderprächtige Bilder («D’Lüt hei gloubt, we d’Sunne verzwiflet isch, de gits es Aberot») prallen auf ungezügelte Leidenschaft («Wott mi i di verbisse, wott mi a dim Saft vergifte, mi i Abgrund la rysse»). Und «im Härz da steckt e bluetige Pfiil». Genau: Herzblut vergiessen die Kummerbuben literweise. Sie sind sehnsüchtig, «stierig», schwindelerregend. Und dabei immer wild im Herzen.