Warum der Russe Kirill Petrenko Chefdirigent bei den weltberühmten Berliner Philharmonikern wurde
«Der Richtige!», «Das verspricht viel!» – die Freude im deutschen Feuilleton über Kirill Petrenkos Wahl zum Chefdirigenten der grossen Berliner Philharmoniker ist riesig. Es scheint, als ob es alle geahnt hätten. Doch niemand hatte wirklich auf den Russen, den Aussenseiter, gesetzt. Vor allem auch deswegen nicht, da er sich im Winter unter geheimnisvollen Umständen von einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern zurückgezogen hatte, ja, regelrecht aus Berlin, weg von begonnenen Proben, geflohen war. Ein Affront.
Nun ist es der 43-Jährige doch, Chefdirigent des manchmal besten Sinfonieorchesters der Welt. Und alle Welt fragt sich, ist Petrenko, den man in der Schweiz noch kaum kennt, auch der beste Dirigent der Welt? Zurückgefragt: War das Simon Rattle 2002? War das Claudio Abbado 1989? Auch sie galten damals nicht als Favoriten, waren nicht die Alleskönner, wurden aber zusammen mit dem Berliner Orchester zu singulären Ausnahmegestalten des Betriebs.
Auch Petrenko kann das werden. Hat ein wahrer Könner mal das «Wunderinstrument» Berliner Philharmoniker in der Hand, kann er richtig loslegen, kann seine kühnsten Klangideen verwirklichen. Es ist ein unheimliches Privileg, mit diesen Spitzenmusikern zu musizieren. Aber es ist auch heikel, bilden sich doch die Berliner Musiker noch viel mehr als andere Orchesterarbeiter auf ihre Kunst ein. Für einen Dirigenten heisst das, dass die Arbeit immer ein Geben und Nehmen ist – ein Laisser-faire und ein Befehlen.
Wohin die Klang-Reise mit Petrenko geht, ist ungewiss. Man wählt das Risiko, auch wenn dieser Dirigent in der Staatsoper München die Kritiker und das Publikum begeistert. Aber im sinfonischen Repertoire hat er wenig Erfahrung gesammelt. Gerade mal drei Konzertprogramme bewältige er mit den Berliner Philharmonikern – diese allerdings zum grossen Gefallen der Musiker.
Bei Rattles Wahl 2002 standen auch andere, grosse Alte in der Poleposition – aber die Berliner wählten damals mit dem britischen Lockenkopf die Zukunft, den Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Bei der Suche nach Rattles Nachfolger lag nun plötzlich das 20. Jahrhundert wieder näher, halb als Drohung, halb als Verheissung: Sowohl mit der Wahl von Christian Thielemann, Daniel Barenboim, als auch mit Riccardo Chailly oder Andris Nelsons hätte man zurück ins – schöne – 20. Jahrhundert geblickt.
Petrenko ist weder der Dirigent der Zukunft noch der Vergangenheit – und er ist auch im Gegensatz zu den Konkurrenten um den Dirigenten-Thron alles andere als ein Medienstar. Petrenko gibt sich als scheu, gibt praktisch keine Interviews, ist nicht der Menschenumarmer wie etwa Gustavo Dudamel, nicht die musikalische Symbole setzende Gestalt wie Daniel Barenboim. «Was ich zu sagen habe, sage ich mit meiner Musik», so seine Devise. Nur der Beste kann sich das heute noch leisten.
Petrenko ist ein Dirigent, der das «Vielleicht» kennt, der minuziös probt, der viel fordert, der auch zweifelt. Die unterlegenen Topfavoriten dirigieren ihre Kunst – und die sehen sie als die einzige und richtige an. Dass die Berliner nun einen wählen, der bohrt und bohrt, probt und probt, ist erstaunlich.
Obwohl die Deutschen von Petrenko schwärmen, bleibt diese Wahl eigenartig. Oder sie zeigt, dass der Wunsch nach dem dirigierenden Superstar Traumdenken der Medien ist. Petrenko war jedenfalls nicht erste Wahl.
Aus zwei sehr guten Quellen erfuhren wir, dass es am 11. Mai einen, wenn nicht gar zwei Anrufe gab. Die Berliner hatten sich damals also für einen Dirigenten entschlossen und riefen ihn an: Der aber sagte ab. War es Daniel Barenboim oder Mariss Jansons? Nach der Absage soll die Diskussion erneut losgegangen, heftig um die Pole Thielemann und Nelsons gestritten worden sein. Nelsons und Thielemann sollen übrigens nach dem 11. Mai signalisiert haben, sie stünden nun nicht mehr zur Verfügung.
Wen wunderts, wurde am letzten Sonntag bloss drei Stunden diskutiert. Als man Petrenko danach anrief, jubelte er: «Ich umarme das Orchester!» Zur Pressekonferenz am Montag kam er nicht, er probte in Bayreuth. Ein deutliches Zeichen, ausdrückend: «Ich komme dann nach Berlin, wenn es Arbeit gibt.» Oder anders gesagt: Auch der Chef der Berliner ist bloss ein Dirigent.